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B. Die Fürsorge der Herrschaft für das kranke Gesinde.
§ 3.
Gesindeordnung und Bürgerliches Gesetzbuch.
Wenn wir nunmehr zur Untersuchung der eigentlichen Frage über
gehen, welche Pflichten der Herrschaft gegenüber dem kranken Gesinde nach
so ist zunächst zu prüfen, welchen Einfluß
dem geltenden Rechte obliegen,
das Bürgerliche Gesetzbuch in diesem Punkte auf das Gesinderecht aus
geübt hat. Der Art. 95 des Einführungsgesetzes läßt zwar, wie eingangs
erwähnt, im allgemeinen das frühere Recht bestehen, hat aber gerade die
auf die Fürsorge bezüglichen §§ 617--619 des BGB. für anwendbar
erklärt, den hauptsächlich in Betracht kommenden § 617 jedoch nur insoweit,
als die Landesgesetze dem Gefinde nicht weitergehende Ansprüche gewähren.
Diese eigentümliche Gestaltung der Gesetzgebung, welche mit Gerhard!
nicht als glücklich bezeichnet werden kann, bedingt für das von dem § 617
betroffene Gebiet in jedem einzelnen Falle*) eine Untersuchung darüber,
ob die Gefindeordnung oder das Bürgerliche Gesetzbuch das Gefinde
günstiger stellt, was um so schwieriger ist, als das Bürgerliche Gesetzbuch
nur eine einheitliche Bestimmung, die Gesindeordnung aber verschiedene
Abstufungen, sowohl in den Voraussetzungen, als auch dem Umfange der
Fürsorgepflicht kennt. Aus diesem Grunde sollen auch bei der hierauf
bezüglichen Darstellung zunächst die Vorschriften der Gesindeordnung be
sprochen, diesen dann die des § 617 in ihren Einzelheiten gegenübergestellt
werden. Aus der Abwägung gegeneinander ergibt sich dann das für das
Gefinde jeweils günstigere Rechtsbild, somit das geltende Recht.
Der normale Fall der Fürsorgepflicht ist der, daß die Krankheit
während der Dienstzeit, unabhängig von einem Verschulden der Herrschaft,
eintritt.*) Daneben sind aber auch die Fälle zu berücksichtigen, wo die
Krankheit von der Herrschaft verschuldet ist, oder schon vor Beginn der
Dienstzeit vorhanden ist.
*) GesO. I S. 110 u. Blätter f. Rechtspfl. 1897, S. 93.
Gutsherrn für sein Gesinde S. 218, regt
Hedemann, Die Fürsorge des
geringeren Tragweite
Zweifel darüber an, ob die Bewertung der größeren oder
des § 617 BGB. jedem einzelnen Tatbestande der Gesindeordnung gegenüber vor
der Gesindeordnung
zunehmen, oder ob eine Gesamtwertung des ganzen Systems
gegenüber dem Reichsrecht am Platze sei. Diese Bedenken können nicht geteilt
werden. Denn bei einer allgemeinen Bewertung kann kein sicheres Resultat ge
wonnen werden, weil nach der einen oder anderen Richtung stets ein Gesetz einem
anderen gegenüber das günstigere bleibt. Zudem hätte, wenn eine Gesamtwertung
gewollt wäre, der Gesetzgeber dieses wohl in der Weise zum Ausdruck gebracht,
daß er der Landesgesetzgebung die Befugnis eingeräumt hätte, an Stelle des § 617
die entsprechenden Vorschriften der Landesgesetze zu setzen, wenn diese günstiger
seien. vgl. auch „Recht" 1902 S. 392 und Schultzenstein der § 617 BGB., im
Arch. f. bürgerl. Recht Bd. 23 S. 310.
*) Diesen Fall behaudelt der § 617 BGB.