VI. Der Organismus der Volkswirtschaft.
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einkommen gerechter und gleichmaßiger verteilt würde, aber auch, weil die Pro
duktion eine ungleich größere sein werde. Letztere Anschauung begründet man
damit, daß mannigfache Arbeitsverluste, welche aus der Plantosigkeit der heu
tigen Produktion erwachsen, in der sozialistischen Produktion nicht mehr statt
finden würden; daß ferner diejenigen Arbeitsverluste, die durch den notwendigen
Schwindel im Kampfe der Konkurrenz heutzutage entstehen, dann ebenfalls in
Wegfall kommen würden; daß ferner die Arbeit vermöge mancher mit Kultur
fortschritten verbundenen Vorteile ergiebiger sein werde, und daß außerdem neue
Arbeitskräfte, welche jetzt überhaupt nicht arbeiten, zur Arbeit herangezogen würden.
Eine Umänderung der heutigen kapitalistischen Produktion in eine sozia
listische kann endlich nach der Ansicht der Sozialdemokratie nur durch die Staats
gewalt herbeigeführt werden, und auf dieses Ziel hin sind denn auch ihre der
zeitigen Bestrebungen gerichtet.
Der große Irrtum der Sozialdemokratie besteht darin, daß alle Fortschritte
der Produktion, welche man von der sozialistischen Anordnung der Arbeit er
wartet, doch nur ein verschwindend kleiner Ersatz wären für den Ausfall, welcher
durch die Beseitigung der freien Konkurrenz und der Hoffnung auf Unter
nehmergewinn herbeigeführt würde. Die Wirtschaft mit gemeinsamen Pro
duktionsmitteln und mit gemeinsamem Gewinn würde entweder zu einer uner
träglichen Arbeitstyrannei oder zu einer von Geschlecht zu Geschlecht verringerten
Produktion und bald zur völligen Verarmung des Volkes führen.
2. Der Staatssozialismus. Grundgedanke des Staatssozialismus ist:
die Durchführung tiefgreifender sozialer Reformen unter Erhaltung der mo
narchischen Staatsform, und im Gegensatze zur Herrschaft der „liberalen Bour
geoisie". Also ein Bündnis zwischen Monarchie und Arbeiterklasse. Anfänge
des modernen Staatssozialismus finden sich in der Politik Napoleons I. und
in den Schriften von St. Simon, eine weitere Entwicklung in der wirtschaft
lichen Politik Napoleons III. — In Deutschland, wo die Schriften von Rod
bertus den Staatssozialismus theoretisch vertreten, fand er eine organisierte
Hilfe in dem „Verein für Sozialreform"; und es ist abzuwarten, ob aus den
gemäßigteren Elementen der Sozialdemokratie und aus den weitestgehenden der
liberalen Reformpartei oder der christlich-sozialen Partei heraus sich eine starke
staatssozialistische Partei bilden wird. Gewiß ist, daß die Regierungen der
europäischen Kulturstaaten dem Staatssozialismus schon manche Konzession ge
macht haben und noch weitere machen dürften. Der wichtigste gegen den Staats
sozialismus gerichtete Einwand gipfelt darin, daß jeder zu weit getriebene Ein
fluß des Staates auf die Privatunternehmung, indem er die Freiheit des Ein
zelnen beeinträchtigt, den Erwerbseifer hindere; und daß, wo der Staat selbst
als Unternehmer auftritt, die Leistungen aller seiner Wirtschaftsbeamten und
Arbeiter nicht die Wirkung haben können, als wenn die gleichen Personen in
ihrem eigenen Geschäfte, mit Aussicht auf Geschäftsgewinn, arbeiten würden.
Schutzzoll und Freihandel. Einer der wichtigsten Parteigegensätze im wirt
schaftlichen Leben erwuchs aus der Frage, ob der Staat die inländische Pro
duktion gegen ausländische Konkurrenz schützen solle und in welcher Weise.
Es ist möglich, daß ein inländisches Gewerbe mit den Produkten eines aus
ländischen nicht konkurrieren kann, weil das ausländische besser und wohlfeiler
produziert. Die Frage, was in diesem Falle zu thun sei, scheidet die Parteien
der Freihändler und der Schutzzöllner.
Die Vertreter des Freihandelssystems behaupten folgende Grundsätze:
Man muß jede Ware zu möglichst billigem Preise einkaufen, gleichviel ob
bei fremden oder bei einheimischen Produzenten. Wollte man dem Auslande
nichts abkaufen, so würde auch das Ausland vom Inlande nichts kaufen können
denn man wird nicht bloß verkaufen wollen ohne selbst auch zu kaufen. Inter
Maier=Rothschild, Handbuch. I. 4. Aufl.
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