644 Zweites Kapitel. Schuldverhältnisse aus Rechtsgeschäften.
gehört das Gesinde zur Familié im weiteren Sinne. Freilich sind
die Rechtswirkungen dieser Familienzugehörigkeit in neuerer Zeit
mehr und mehr abgeschwächt. Allein grundsätzlich halten die
meisten geltenden Gesindeordnungen an dem patriarchalen Gedanken
fest. Und ganz sind auch in den zur rein schuldrechtlichen Auf
fassung neigenden Gesindeordnungen, wie sie namentlich in Süd
deutschland überwiegen 18, die familienrechtlichen Züge des Ge
sinderechts nicht ausgetilgt.
Die öffentlichrechtliche Seite des Gesinderechts kau
schon früh in besonderen strafrechtlichen Bestimmungen
dann aber vor allem in seiner Unterstellung unter polizeiliche
Gewaltbefugnisse zum Ausdruck, die im obrigkeitlichen Staate eine
aufserordentliche Steigerung erfuhren und beim ländlichen Gesinde
sich mit den aus Hörigkeits- oder Erbuntertänigkeitsverhältnissen
fliefsenden gutsherrlichen Befugnissen, insbesondere dem zur Rück
bildung des freien Gesindevertrages führenden Gesindezwange, ver
flochten 182. Aber auch nach dem Wegfall des alten Polizeirechts
hat sich eine umfassende Zuständigkeit der Polizeibehörden in
Gesindesachen behauptet. Nur ist regelmässig polizeilichen Ver
fügungen gegenüber die Beschreitung des Rechtsweges zugelassen.
Auch haben die Gesindeordnungen neben dem früher sehr einseitig
betonten Schutze der Autorität der Herrschaft mehr und mehr
sich zugleich den Schutz des Gesindes mit den Mitteln des öffent
lichen Rechtes zum Ziel gesetzt. Manche neueren Gesindeordnungen,
besonders süddeutsche, haben unter Annäherung des Gesinderechts
an das Recht des gewerblichen Arbeitsvertrages die besonderen
gesindepolizeilichen Einrichtungen stark beschnitten, aber doch
nicht völlig aufgehoben.
3. Der Begrif des Gesindevertrages bestimmt sich nach
Landesrecht. Viele Gesindeordnungen enthalten ausdrückliche Be
griffsbestimmungen, die aber nicht nur unter sich ungleich, sondern
auch meist unzureichend sind und für mancherlei Zweifel im Einzel
falle Raum lassen 19. Die Entscheidung über die Abgrenzung hängt
18 Eine entschiedene Abkehr vom patriarchalen Prinzip vollzog zuerst die
bad. Ges.O. v. 1868. Das neue Gesinderecht in Württemberg und Elsafs
Lothringen schaltet es gleichfalls möglichst aus, während das bayrische und
hessische mehr vermitteln.
1sa Darüber vgl. bes. Wuttke a. a. O., Lennhof a. a. O. S. 103 ff.,
Könnecke S. 324 ff., auch S. 29 ff.
1 Definitionen z. B. in Preufs. Ges.O. § 1, Rhein. § 1, Vorpomm. § 1,
Nassau. § 2, Frankf. § 2, Sächs. § 2 u. 4, Weim. § 2—3, Kob.-Goth. § 2—3,