15.
Altdeutsches und neudeutsches Strafrecht
Von Dr. Eduard Osenbrüggen in Zürich
Altdeutsches und neudeutsches Strafrecht.
Von
Herrn Professor vr. Eduard Dsenbrüygen
in Zürich.
Die deutsche Rechtswißenschaft zeichnet sich aus durch den in
ihr herrschenden historischen Sinn; es ist unbestritten, daß kein an-
deres Land so Vieles und so Großes im Gebiete der Rechtsge-
schichte aufzuweisen hat als Deutschland, und selbst diejenigen deut-
schen juristischen Schriftsteller, welche gar kein oder nur ein desul-
torisches Quellenstudium gemacht haben, glauben sich das Ansehen
geben zu müßen, als seien sie historische Forscher. Wie wenig
haben sich dagegen noch die Engländer bemüht, den reichen Stoff
ihrer Rechtsentwicklung wißenschaftlich zu bearbeiten! Es sind
deutsche Gelehrte, welche mit deutscher Gründlichkeit das angel-
sächsische Recht und das alte Recht von Wales in Angriff genom-
men haben. In einem ganz anderen Verhältnisse stehen aber die
Engländer und die Deutschen zu einander, wenn wir auf die Ge-
staltung ihres Strafrechts in diesem Jahrhundert sehen: da ver-
fahren jene historisch, diese unhistorisch, da bewähren jene den hi-
storischen Sinn praktisch, während diese für die Gesetzgebung davon
abstrahiren und die Straftechtsgeschichte im Studirzimmer verbleiben
laßen. Der ganze Stoff des eouuuou und statute law wird in
England durchforscht und gesichtet, die Erfahrungen alter und neuer
Zeit werden befragt, seit Jahrzehnten berichten Commissionen, be-
stellt aus Juristen und Nichtjuristen, über die Hauptfragen de-