Volltext: Archiv für bürgerliches Recht (Bd. 19 (1901))

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Heinrich Schilling.

vertheidigte und wohlbegründete Auffassung steht allerdings in Wider
spruch mit der bislang herrschenden, besonders von Kraut und Rive* 2-')
in ihren Werken über das Bormundschaftsrecht vertretenen Anschauung.
Der wissenschaftlichen Bearbeitung des deutschen Familienrechts uub
der richtigen Erkenntniß seiner Grundlagen ist vor allem ein Umstand
verhängnißvoll geworden. Das mittelalterliche Recht hat sein ganzes
System des Familienrechts aufgebaut auf dem Begriff der Vormund
schaft. Wie die vaterlosen Waisen unter einem Vormund stehen, so m
nicht minder der Ehemann der Vormund seiner Frau und der Vater
der Vormund seiner Kinder. Mehr oder minder bewußt hat man nun
in diesen Begriff der Vormundschaft unsere modernen Anschauungen
über Vormundschaft hineingetragen und sie zur Konstruktion jener Ber
hältnisse verwerthet. So ist Kraut dazu gekommen, die Vormundschaft
als materiell einheitliches Institut auf Schutzbedürftigkeit des Wehrlosen
und Vertretung desselben durch Selbsthülfe und Fehde, später auf
gerichtliche Vertretung zurückzuführen. Die Vormundschaft soll lediglich
als Ergänzung der Handlungsfähigkeit sunktioniren; sie soll, wie
Agricola26) sich ausdrückt, diejenige familienrechtliche Gewalt sein,
vermöge deren ihr Inhaber eine rechtlich unselbständige Person in ihrer
ganzen persönlichen und vermögensrechtlichen Stellung, also in der Aus-
übung ihrer Rechte und Pflichten oder ganzer Parthien derselben ver-
tritt. Aber es ist eine reine petitio principii, wenn Agricola be-
hauptet,^) Vormundschaft sei in allen Rechten ihrer Grundidee nach
Vertretung, Beschützung einer sich selbst zu vertreten und zu schützen
irgendwie unfähigen Person. Das mag für das moderne Recht richtig
sein, aber es gilt nicht für alle Zeiten und Rechte. Der Gedanke der
Vertretung 28) der Schutzbedürftigen und der Ergänzung der Handlungs-
fähigkeit lediglich um ihrer selbst willen setzt bereits eine höhere Kultur
entwickelung voraus, er liegt aber weit ab von der Bahn eines Rechtes,
das noch in seiner Kindheit- und Jugendperiode steht. Er ist uns un-

25) Kraut, Die Vormundschaft nach den Grundsätzen des deutschen Rechte,
insbesondere Bd. 1 S. 24 f., 51, 100 s. Rive, Geschichte der deutschen Vor-
mundschaft, insbesondere Bd. I S. XXII, 223, II I S. XIV f., II 2 S. 1>f
2«) Agricola S. 88.
27) L. c. S. 77.
28) So lehnt den Gedanken der Vertretung jetzt auch ab Huber.
Schweizerisches Privatrecht Bd. 4 S. 513 Anm. 4.

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