Full text: Archiv für bürgerliches Recht (Bd. 29 (1906))

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Ernst Zitelmann.

weit der Wert des Vermächtnisses reicht." Da hiernach der Bedachte
Pflichtteil und Vermächtnis nicht zusammen, vielmehr den ganzen Pflicht-
teil nur nach Ausschlagung des Vermächtnisses fordern kann, so wird
allerdings in der Forderung des ganzen Pflichtteils für gewöhnlich schon
die stillschweigende Ausschlagung des Vermächtnisses liegen, und zwar
selbst dann, wenn der Bedachte ausdrücklich erklären sollte, er wolle
durch die Geltendmachung des Pflichtteilsanspruchs eine Ausschlagung
des Vermächtnisses nicht vornehmen: diese Verwahrung wäre unwirksam.
Nur dann ist, so wird mit Recht gelehrt, jener Rückschluß nicht berechtigt,
wenn der Bedachte sich im Rechtsirrtum über den soeben ausgesprochenen
Grundsatz befindet, und ebenso wenn er die Vermächtnisverfügung, die
zu seinen Gunsten getroffen ist, tatsächlich nicht kennt. Unser Fall
zeigt, daß diesen beiden Ausnahmen noch eine dritte hinzuzufügen ist:
der Bedachte kennt zwar die zu seinen Gunsten getroffene Verfügung,
aber er sieht sie, wennschon aus Rechtsirrtum, nicht als Vermächtnis -
Verfügung an. Die Erhebung des Pflichtteilsanspruchs kann in diesem
Falle den Charakter der Vermächtnisausschlagung nicht haben.
2. Es fragt sich weiter, welches richterliche Urteil zu erfolgen hat.
Hier sind der Teil des erhobenen Pflichtteilsanspruchs, der durch das
Vermächtnis gedeckt ist, und der nicht gedeckte Rest des Anspruchs ge-
trennt zu betrachten.
Was den durch das Vermächtnis gedeckten Teil des Anspruchs
betrifft, so steht zwar nach dem angeführten § 2307 fest, daß die
Forderung vor Ausschlagung des Vermächtnisses materiell ungerecht-
fertigt ist. Indes hängt gerade bei der eigentümlichen Gestaltung des
vorgetragenen Falles die praktische Entscheidung davon ab, in welcher
Weise dieses Ungerechtfertigtsein juristisch aufzufassen ist, und hierüber
herrscht Streit. Nach der einen Auffassung — sie war, nach den
Motiven und Protokollen, die der beiden Kommissionen und wird auch
heute noch vertreten, so von Herzfelder in der soeben erschienenen
zweiten Auflage von Staudingers Kommentar Bd. V, Anm. 2 zu
§ 2307 — ist vor der Ausschlagung des Vermächtnisses der Pflicht-
teilsanspruch zwar auch schon vorhanden, aber es kann ihm eine rechts-
hemmende Einrede entgegengesetzt werden. Nach der anderen Auffassung
kommt der Pflichtteilsanspruch, soweit das Vermächtnis reicht, mit der
Ausschlagung des Vermächtnisses überhaupt erst zur Entstehung; dies
ist die wohl herrschende Meinung, s. Strohal, Erbrecht Bd. I (3. Aufl.)

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