Full text: Archiv für bürgerliches Recht (Bd. 36 (1911))

Beiträge zur Dogmatik des Tarifvertragsrechts. 318
prüft, um diejenige aufzustellen, die das innere Wesen des Rechts-
verhältnisses implicite zum Ausdruck bringt. Dem Parteiwillen steht
es selbstverständlich frei, die in Betracht kommenden Elemente des
Rechtsverhältnisses — je nach Auffassung des Geschäftszweckes — ent-
sprechend umzubilden und eventuell das „innere Wesen" zu modi-
fizieren. Denn, insofern keine gesetzlichen Schranken entgegenstehen, können
die Elemente des Tatbestandes je nach Belieben der Parteien um-
gestaltet und so Rechtsverhältnisse geschaffen werden, die von der
Normalform mehr oder minder abweichen. Es ist nicht in Abrede zu
stellen, daß das Tarifverhältnis so gestaltet werden kann, daß die
Einzelpflichten und -rechte vollständig ausscheiden: der Verband soll
als Vertragssubjekt hervortreten und, da er selbstredend als Kollektiv-
einheit nicht die einzelnen Rechte pro singulis ausüben und auch nicht
die einzelnen Pflichten übernehmen kann, so werden ihm spezifische
Funktionen zuteil, die primär im Wesen des Tarifverhältnisses nicht
liegen. Denn da der Tarifvertrag die Beobachtung der generaliter
aufgestellten Regeln als Hauptzweck auffaßt, wird hier dieser „Vertrags-
imperativ" den einzelnen Mitgliedern nicht auferlegt, sondern der Ver-
band verpflichtet, darauf zu achten, daß die Tarifnormen nicht verletzt
werden. Eine Schutz- und Garantiefunktion wird zum Hauptinhalt
des Vertrages, das sekundäre (wenn auch sehr wichtige) Moment,
als das Wesen des Rechtsverhältnisses ausmachend, anerkannt. Wir
wiederholen: eine derartige Auffassung ist nicht unmöglich und keinesfalls
als irrtümlich zu bezeichnen. Im Interesse der Parteien mag es
liegen, die Singularmomente des Rechtsverhältnisses als nicht vor-
handen anzunehmen und die Schutzfunktionen den Einzelverpflich-
tungen vorzuziehen. Die Verbandstheorie kann dem Parteiwillen
entsprechen, da sie vielleicht (im Grunde genommen nur anscheinend)
das Tarifverhältnis vereinfacht, die effektive Haftung ermöglicht, den
Rechtsschutz nicht kompliziert. Dabei kann es den Parteien gleich-
gültig sein, daß das vinculum juris die einzelnen Verbandsmitglieder
nicht bindet, daß deren Verpflichtung jederzeit illusorisch gemacht werden
kann (da ihre „Leistung" nicht auf dem Vertrage selbst, sondern auf
einer durch den Vertrag statuierten Einwirkungsverpflichtung deS
wirklichen Kontrahenten basiert) und endlich, daß von der Ausübung der
Einzelrechte keine Rede sein kann, da der Bertragsschutz nur so weit aus-
geübt wird, als das Verbandsinteresse zur Intervention berechtigen kann.

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