Full text: Archiv für bürgerliches Recht (Bd. 36 (1911))

Beiträge zur Dogmatik des Tarifvertragsrechts. 313
Rechtsverhältnisses nur als aus dem spezifischen Geschäftsinteresse sich
ergebende sekundäre Folgerung erachtet werden müßte. Es frägt sich
auch, ob dieses Geschäftsinteresse auch ohne Abweichung von der „natür-
lichen" konstrukttven Auffassung Beachtung und gebührende Berücksichtigung
finden könnte.
Bei näherer Prüfung der für die Konstruktion maßgebenden
Momente ergibt es sich, daß die Übertragung der primären Berechti-
gungen und Verpflichtungen auf die Organisation keinesfalls für die
Erreichung des Vertragszweckes unentbehrlich sei. Die selbständige
Ansprüche und entsprechende Verpflichtungen schaffende obligatorische
Funktion des Tarifvertrags kann nicht in der für das Wesen des
Rechtsverhältnisses gleichgültigen Begleiterscheinung der Organisation
der Kontrahenten gesucht werden. Ich sehe hier ab von der bei solcher
Auffassung vorkommenden konstruktiven Asymmetrie: der eigentümlich
formulierten und künstlich umgestalteten Verpflichtung des Arbeitnehmer-
verbandes soll die primäre, dem Wesen nach individuelle Verpflichtung
des einzelnen oder mehrerer Arbeitgeber entsprechen, falls auf ihrer
Seite keine Organisation vorhanden ist. Eine derartige Inkongruenz
würde noch nicht gegen die ausschließliche Verbandskonstruktion sprechen,
denn man könnte mit Recht erwidern, daß eben das Vorhandensein
der Organisation eine konstruktive Umgestaltung der Ansprüche fordert.
Jedoch abgesehen davon, kann auf der Taffache, daß die einzelnen
Arbeitnehmer aus bekannten, durch die Entwicklung des modernen
Wirtschaftslebens bedingten Gründen sich organisieren, die Folgerung
nicht begründet werden, daß die von ihnen individuell zu über-
nehmenden Verpflichtungen der Organisation zustehen müssen. Die
Aufstellung von Einzelpflichten und -rechten würde aber — nach
Auffassung einiger Schriftsteller — dem Kollektivcharakter der tarif-
lichen Vertragschließung wideffprechen und die Rolle der Verbände,
die durch ihre solidarische Aktion die Lage der Arbeitnehmer günstig
zu beeinflussen wissen, verkennen. Das Problem des Kollektivvertrages
kann nicht „mit den unzureichenden Mitteln des Jndividualvertrages"
erfaßt werden^). Daraus aber, daß die Verbände an der Vertrag-
Ickließung teilnehmen oder — setzen wir voraus — teilnehmen müssen,
folgt noch nicht, daß die Substituierung der Kollektivansprüche, die

6) Sinzheimer a.a.O. I S. 80.

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