Full text: Archiv für bürgerliches Recht (Bd. 36 (1911))

210

Rundstein.

Rechtssystems aufzufassen und als eine besondere, bisher verkannte
Kategorie zu betrachten, bestand zuerst die Aufgabe der Dogmatik in der
Erforschung der wesentlichen Merkmale des Tarifvertragsinhalts, seiner
Unterscheidung von verwandten Erscheinungen und hauptsächlich in der
Analyse seiner Rechtswirkung. Daß die Kontrahierungsart an sich
und die rechtliche Rolle der Tarifparteien dabei nicht unbeachtet blieben,
versteht sich von selbst; man begnügte sich jedoch mit der Feststellung, daß
bei der Vertragsschließung entweder nicht organisierte Mehrheiten oder
Vereinseinheiten Vorkommen und daß diese Rechtsstellung der Parteien
auch für Durchführung, Bestand und Rechtsfolgen des Tarifvertrages
von gewissem, besonders festzustellendem Einfluß sei. Weil man bei
simplifizierender Betrachtung der rechtserheblichen Vorgänge den Schwer-
punkt des Rechtsverhältnisses in den Berechtigungen und Verpflichtungen
der einzelnen Kontrahenten sah, war die Frage nur von sekundärer
Bedeutung: denn sowohl bei amorpher" wie auch bei der durch
Organisation vermittelten Vertragschließung änderte sich nicht die
Stellung der Kontrahenten, es bestand nur ein Unterschied in dem
Charakter der den Verbandstarifen eigentümlichen, durch den Zusammen-
schluß bedingten Garantie- und Schutzfunktion. Die Vertretungs-
theorie, die als den beiden Kontrahierungsarten konform erachtet
wurde, lieferte die Erklärung der beim Vertragsabschluß vorkommenden
Vorgänge und ließ auch keinen Zweifel zu, daß der einzelne Arbeit-
nehmer bezw. Arbeitgeber als am Vertrage unmittelbar interessierte
Person gelten solle. Mit dieser Feststellung sind freilich die Schwierig-
keiten nicht behoben worden, die einerseits mit der Möglichkeit einer
unbestimmten Vertretung intor ceteros, andererseits mit der Konstruktion
des zwischen einzelnen und dem sie vertretenden Verbände bestehenden
Rechtsverhältnisses Zusammenhängen. Wie diese Schwierigkeiten durch
entsprechende Auslegung des Parteiwillens und spezifische der Kollektiv-
vertragschließung innewohnende Eigenschaften, wenn nicht beseitigt, so
doch gewissermaßen gemindert werden können, interessiert uns nicht
näher. Hier kommt es nur darauf an, daß das Vorhandensein dieser
Schwierigkeiten einerseits und die Feststellung der der korporativen
Vertragschließungsform innewohnenden Vorzugsstellung andererseits zur
abweichenden Auffassung über die Rolle der einzelnen Kontrahenten
führten. Man versuchte es zuerst, die Bedeutung des Einzelwillens in
Abrede zu stellen: der Einzelwille sollte — durch den Verbandswillen

Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.

powered by Goobi viewer