20.1.3.
Anfechtbarkeit einer Willenserklärung wegen Irrtums bei der Preiskalkulation?
(Prof. Dr. Oertmann)
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XIV. Jahrg. Deutsche Juristen-Z eitun g. 1909 Nr. 13.
der die Voraussetzungen der schwereren Schuld weder
für erwiesen noch für widerlegt erachte, sei nicht ge-
hindert, der Prüfung der Frage näher zu treten, ob die
Voraussetzungen der Fahrlässigkeit bewiesen seien.
Auch in dem Urteile des II. Sen. v. 16. Okt. 08
(Bd. 42 S. 18 Nr. 6) wird eine den Zielen der
Strafjustiz angepaßte Auslegung bevorzugt. Zum
Tatbestände der wissentlich falschen Anschuldi-
gung gehört es, daß „jemand“, also eine individuell
erkennbare Person, beschuldigt wird. Nun hatte
Angeklagter einen fingierten Diebstahl zur Anzeige
gebracht, ohne jemand zu beschuldigen. Erst auf
Anfrage der Polizei hatte er den angeblichen Dieb
bezeichnet. Buchstabenauslegung würde annehmen,
daß in diesem Tatbestände das Vergehen des § 164
StrGB. nicht liege. Das Reichsgericht stellt sich
auf einen anderen Standpunkt, indem es mit der
Vorinstanz annimmt, daß, wenn der Anzeigende
weiß, daß eine polizeiliche Nachforschung über die
fingierte Tat stattfinden werde, und wenn er dann
auf diese Nachforschung hin die unrichtige Angabe
über den Täter macht, diese Verdächtigung eine
seine Anzeige ergänzende freiwillige und einseitige An-
gabe sei. Dieser Auslegung muß zugestimmt werden.
Die für den Unterschied zwischen Diebstahl
und Jagdvergehen und für die Strafbarkeit der
Okkupation von Wildstangen sowie Anwendung
der Schonvorschriften sehr wichtige Frage, ob von
der Größe eines Wildparkes die Herrenlosigkeit des
darin befindlichen Wildes abhänge, ist in der Praxis
sehr bestritten (s. darüber Ebner in der Zeitschrift
Wild und Hund 1906 Nr. 41 u. 42). Man hat be-
sonders auf § 960 BGB. Wert gelegt und die ältere
reichsgerichtiiche Rechtsprechung als durch § 960
BGB. überholt dargestellt. In der Tat hat auch das
reichsgerichtliche Urteil des 6. Zivilsenats v. 9. Jan.
1902 (VI 217/01, abgedruckt in den Schultzschen
Entscheidungen aus dem Gebiete der preuß. Jagd-
Gesetzgebung usw. Bd. 1 S. 53) einen über das
Jahr 1899 nicht hinausgehenden Tatbestand. Jetzt
wird durch Urt. des I. StrS. v. 26. Nov. 08 (Bd. 42
S. 75 Nr. 24) in Übereinstimmung mit den älteren
Entscheidungen die Frage verneint, und zwar in
Auslegung des § 960 BGB., dessen zweiter Satz,
„wilde Tiere in Tiergärten sind nicht herrenlos“,
gerade die Anlegung neuer und die Erhaltung be-
stehender Jagdparks ermögliche. Wäre die Ansicht
richtig, daß nur solche Tiere, die stets sichtbar und
auffindbar seien und sofort ergriffen werden könnten,
der rechtlichen Herrschaft unterworfen seien, so
hätte Satz 1, „wilde Tiere sind herrenlos, solange
sie sich in der Freiheit befinden“, ausgereicht. Hier-
nach ist, wie früher, es lediglich für erheblich an-
zusehen, ob der umschlossene Raum die Gefangen-
schaft des Wildes begründet. Ist dem Wilde der
Austritt überall unmöglich gemacht, so kann aus
der Größe des Parks nicht geschlossen werden, daß
das eingesperrte Wild sich in Freiheit befinde. Diese
Entscheidung verdient vollen Beifall, die gegenteilige
Rechtsauffassung würde zu großer Unsicherheit führen.
Anfechtbarkeit einer Willenserklärung
wegen Irrtums bei der Preiskalkulation?
Von Professor Dr. Oertmann, Erlangen.
Der Irrtum in der Preiskalkulation ist im Leben
eine nichts weniger als seltene Erscheinung — er
findet sich nicht nur beim Kauf: so etwa, wenn der
spekulierende Verkäufer auf Grund unrichtiger Mit-
teilungen oder auch nur auf Grund getäuschter Er-
wartungen über die Preisentwickelung glaubt, sich
die Waren seinerseits billiger verschaffen zu können,
als es nachher der Fall ist, sondern auch bei der
Miete, dem Werk- und Werklieferungsvertrag: der
Werkmeister berechnet das Quantum der erforder-
lichen Materialien, der Vermieter den Herstellungs-
betrag des vor Vollendung zu vermietenden Hauses
zu niedrig und setzt daher den zu fordernden Ent-
gelt entsprechend geringer an. Daß derartige Irr-
tümer dem Irrenden einen erheblichen Schaden
bringen, den erhofften wirtschaftlichen Nutzen aus
dem Geschäft leicht ins Gegenteil verkehren und
äußerstenfalls sogar zum Ruin des Betroffenen führen
können, liegt auf der Hand — besonders bei Sub-
missionen sollen derartige Fälle öfters vorgekommen
sein. So wird das Bestreben, sich von solchen
verhängnisvollen Abmachungen zu befreien, nur zu
erklärlich, und die große Zahl von Entscheidungen
aus jüngster Zeit beweist, daß wieder und wieder
versucht wird, auf Fälle dieser Art das Anfechtungs-
recht aus § 119 BGB. zur Anwendung zu bringen.
Dies trotz aller Ungunst der Theorie (s. statt
aller Dernburg I § 145, IZ. 4, Oertmann zu § 119
cit. Nr. 4dß) und der, soviel ich sehe, einmütigen
Praxis: ich weise auf die in meinem Kommentar
a. a. O. züsammengestellten Entscheidungen hin1);
zu ihnen ist inzwischen noch hinzugekommen eine
Entsch. des OLG. Hamburg v. 1. Febr. 1909, Recht
09 Beil. Nr. 962 (besprochen in den Hamb. Nach-
richten vom 30. März 1909) sowie eine dort an-
gezogene, mir übrigens noch nicht bekannt gewordene
Entsch. des RG.
Gegenüber einer so gefestigten Praxis würde
die gegenteilige Meinung von vornherein einen recht
schweren Stand haben. Sie muß aber auch grund-
sätzlich mit Entschiedenheit bekämpft werden: der
Irrtum über die Preiskalkulation ist als solcher,
grundsätzlich, unbeachtlich.
Daß dabei kein Irrtum über die Erklärungs-
handlung selbst vorliegt, ist von vornherein selbst-
verständlich. Aber auch kein solcher über den Er-
klärungsinhalt: man wollte ja die Summe fordern,
die man wirklich gefordert hat: nämlich die auf
Grund der Kalkulation als angemessen angesehene
Summe; Wille und Erklärung weisen nicht den
mindesten Widerspruch auf. Irrig war freilich die Vor-
stellung, von der man bei Berechnung des zu fordernden
Betrages ausging; irrig, weil auf einem Additions-
9 RG. II V. 16. X. 1903, Entsch. Bd. 55 Nr. 90 S. 368 und vom
9. XI. 1906, Jur. Woch. 1907 S. 4. OLG. Königsberg v. 16. I. 1908,
Recht 08 Beil. 2 S. 189 (Sörgel, Rechtsprechung 1908 S. 22 Nr. 13),
OLG. Hamburg v. 30. V. 1901, Rtspr. 3 8. 40 und v. 7. XI. 1906,
Seuft. A. 62 Nr. 176 S. 308. KG. v. 10. Y. 1905, Rtspr. 13 S. 324.