Full text: Deutsche Juristen-Zeitung (Jg. 6 (1901))

19.3. Vermischtes

19.3.1. Statistik der Strafanstalten und Gefängnisse

19.3.2. Berliner Anwaltsverein : Vortrag von Geh. JR. Prof. Dr. von Liszt über "Die Stellung der Verteidigung in Strafsachen"

19.4. Vereine und Gesellschaften

No. 8.

Deutsche Juristen-Zeitung.

179

nicht schuldig plädiere, und dafs damals die ganze
Anwaltschaft darüber entrüstet gewesen sei. Dieser
Hinweis ist blendend, aber unzutreffend. Das Un-
gehörige in jener Anrede an die Geschworenen ist,
dafs der Gerichtsvorsitzende vor den Geschworenen
jene Stellung des Verteidigers betonte und dadurch
dessen Rede jeden Wert nahm. So kann ja auch
nicht geleugnet werden, dafs der Staatsanwalt oft
gegen seine Ueberzeugung plädieren mufs, wenn er
von seinem Vorgesetzten angewiesen ist, die An-
klage zu erheben oder zu vertreten, und doch wäre
es in hohem Grade ungehörig, wollte ein Vor-
sitzender den Geschworenen unmittelbar vor ihrer
Urteilsfällung sagen, auf die Rede des Staatsanwaltes
dürften sie nichts geben, da er ja unter Umständen
auch dann, wenn er von der Unschuld überzeugt
sei, auf schuldig plädieren müsse. Derartige Hin-
weise sind eben durchweg deplaciert; nur die Kraft
der Argumente steht in Frage, nicht der Glaube
dessen, der sie verbringt.
Staub.

Vermischtes.
Die Statistik der zum Ressort des preufs. Ministeriums
des Innern gehörenden Strafanstalten und Gefängnisse
ist soeben für das Etatsjahr 1. April 1899 bis 31. März
1900 erschienen. Diese vortrefflich gearbeitete Statistik
ist für den Kriminalpolitiker von um so gröfserem Werte,
als leider das preufsische Justizministerium über die zu
seinem Ressort gehörenden Gefängnisse nichts veröffent-
licht. Aus der gen. Veröffentlichung dürfte folgendes von
allgemeinerem Interesse sein:
Die Zahl der im Berichtsjahr neu hinzugekommenen
Zuchthausgefangenen betrug 5324. Es ist dies — ab-
gesehen vom Jahre 1871, das aus schon vielfach erörterten
Gründen für die Kriminalstatistik aufs er Betracht bleiben
mufs — die überhaupt niedrigste Ziffer des jährlichen
Zugangs. Die höchste Ziffer mit 9589 fällt auf das Jahr
1881/82. Auf 10 000 der über 18 Jahre alten Bevölkerung
berechnet betrug der Zugang im Jahre 1881/82: 6,01, im
Jahre 1899/1900: 2,94. Die schwere Kriminalität
ist also sehr erheblich gesunken.
Auf dies günstige Bild fällt aber ein recht trüber
Schatten durch die von dem Ministerium veranlagten
Erhebungen über die rückfälligen Verbrecher. Von den
Gefangenen, die sich vom 1. Oktober 1894 bis 31. März
1900 in preußischen Zuchthäusern befanden, hatten 27 810
drei und mehr Vorstrafen verbüßt; und bezüglich dieser
ging das Gutachten der Anstaltsbeamten dahin, dafs bei
26 244 der Rückfall nach der Entlassung wahrscheinlich,
bei 909 zweifelhaft, und nur bei 650 unwahrscheinlich sei.
Diese Ziffern über das Berufsverbrechertum oder, um
einen jetzt beliebteren Ausdruck zu gebrauchen, über die
„antisozialen Elemente“ dürften zu ernsten Erwägungen
darüber anregen, ob wir mit unserem Strafensystem auf
dem richtigen Wege sind.
Aus der Anstaltsverwaltungs - Statistik hebe ich als
besonders erfreulich hervor, daß die Zahl der zu land-
wirtschaftlichen Kulturarbeiten verwendeten Zuchthaus-
gefangenen von rund 1000 im Vorjahre auf rund 2100 ge-
stiegen ist, und daß sich der Ertrag der Gefängnisarbeit in den
Zuchthäusern von 157,28 M. auf den Kopf und das Jahr
im Vorjahre auf 162,69 M. erhöht hat. In immer weiterem
Mafse werden auch, was sehr zu billigen ist, Gefangene
zu baulichen Reparaturen, Umbauten und Neubauten im
Ressort der Gefängnisverwaltung verwendet. Die Zahl
dieser Umbauten und Neubauten, bei denen es sich vor

allem darum handelt, an die Stelle alter Gemeinschafts-
gefängnisse Zellengefängnisse zu setzen, ist, wie eine bis
zum Jahre 1871 zurückreichende Uebersicht zeigt, eine
sehr erhebliche gewesen.
Wohl mit Rücksicht auf das am 1. April d. J. in
Kraft getretene Fürsorge-Erziehungsgesetz werden de-
tailliertere Angaben, als in früheren Jahren, über die auf
Grund des § 56 RStrGB. der Zwangserziehung über-
wiesenen Jugendlichen gegeben. Ein näheres Eingehen
hierauf behalte ich mir für eine andere Gelegenheit vor.
Landgerichtsrat Dr. Aschrott, Berlin.

Vereine und Gesellschaften.
Am 23. März d. J. hielt im Berliner Anwalts-
Verein Geh. Justizrat Professor Dr. von Liszt
einen Vortrag über die Stellung der Verteidigung in
Strafsachen. Der Vorstand des Anwaltsvereins beschloss,
da die Behandlung der Frage durch den Vortragenden in
eine ganz neue und interessante Beleuchtung gerückt
worden sei, auf Grund der von ihm gegebenen Anregungen
sich in einer Reihe weiterer Sitzungen mit dem Thema zu
beschäftigen. Insbesondere soll die Reform des Vorver-
fahrens eingehend besprochen werden.
Mit Rücksicht auf die Wichtigkeit dieses durch die
großen Prozesse der letzten Zeit in den Vordergrund des
Interesses gerückten Themas und seine ausgezeichnete
Behandlung geben wir im nachstehenden dem Redner
gern selbst in ausführlicher Weise das Wort:
„Die auf der heutigen Tagesordnung stehende Frage
ist in erster und letzter Linie eine Standesfrage, die
ihre theoretische und praktische Lösung aus der Mitte
des Anwaltstandes selbst finden mufs. Aber auch die
Wissenschaft ist berufen, an dieser Lösung mitzuarbeiten.
Denn die feste und unverrückbare Grundlage für die Ent-
scheidung der Frage und der allgemeingültige Maßstab
für die Bewertung der einzelnen Vorkommnisse des täg-
lichen forensischen Lebens kann nur gewonnen werden
durch die streng wissenschaftliche, von allem einzelnen
abstrahierende Erkenntnis der Grundgedanken, die
unser heute geltendes Strafprozefsrecht beherrschen. Diese
wissenschaftliche Erkenntnis nach meinen besten Kräften zu
fördern, ist die Aufgabe, deren Lösung ich übernommen habe.
Die wissenschaftliche Betrachtung hat das geltende
Recht als ein historisch gewordenes ins Auge zu fassen
und die Faktoren dieses Werdeganges klar zu legen. Die
moderne Gesetzgebung hat das Strafverfahren, obwohl es
seiner Natur nach ein Prozeß überhaupt nicht ist, künst-
lich zum Prozeß gestaltet; sie hat das gethan, indem sie
Parteirollen schuf, während in Wahrheit gar keine
Parteien vorhanden sind, und sie hat es gethan im Inter-
esse der Wahrheitserforschung. Zu einem Prozeß ge-
hören drei Personen: ein Kläger, der seinen Anspruch
geltend macht, ein Beklagter, der den gegen ihn geltend
gemachten Anspruch abwehrt, und der Richter, der, über
den Parteien stehend, ihren Rechtsstreit entscheidet. Der
Prozeß ist seinem Wesen nach Parteiprozefs. Das Straf-
verfahren hat aufgehört, Parteiprozefs, also überhaupt
Prozeß zu sein, von dem Augenblicke ab, in dem die
Erkenntnis zum Durchbruch gelangte, dafs das Verbrechen
die öffentliche Rechtsordnung verletzt, dafs daher die Er-
hebung und Durchführung der Anklage nicht von der
Willkür des Verletzten abhängig gemacht werden können,
sondern vom Staate selbst in die Hand genommen werden
müssen. Der gemeinrechtliche Inquisitionsprozefs ist in
allen Stadien seiner Entwickelung niemals Prozeß ge-
wesen. Es fehlt der Kläger und der Beklagte; denn der
Inquisit ist nicht Prozefssubjekt, sondern Inquisitionsobjekt

Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.

powered by Goobi viewer