Full text: Deutsche Juristen-Zeitung (Jg. 18 (1913))

7.4.5. Justizrat Dr. Erich Sello [gestorben]

7.4.6. Personalien

7.5. Vereine und Gesellschaften

7.5.1. Juristische Gesellschaft zu Berlin : (Vortrag von JR. Dr. Ernst Springer: Beweisverfahren im Zivilprozeß und seine Reformbedürftigkeit)

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XVIII. Jahrg. Deutsche Juristen-Zeitung. 1913 Nr. 1.

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Nachfolger auf dem Lehrstuhl, Prof. Dr. Her kn er, der
bisher an der Technischen Hochschule zu Charlottenburg
wirkte, in Zukunft nicht weniger eine Leuchte für die
heranwachsende wie für die reife Juristenwelt sein werde.
Oberverwaltungsgerichtsrat Dr. Damme, Berlin.

Justizrat Dr. Erich Sello ist am 9. Dez. 1912
verstorben« Houston Stewart Chamberlain hat in seinen
Grundlagen des 19. Jahrhunderts die vielfach erörterte
Streitfrage untersucht, ob die Jurisprudenz eine Wissen-
schaft oder Technik (Kunst) sei. Es ist hier nicht der
Ort, diese Streitfrage näher zu untersuchen. In der Praxis
aber brauchte man nur Sello zu sehen, um sich darüber
klar zu sein, daß dieser Jurist Wissenschaft und Technik
der Jurisprudenz in sich vereinigte. Mit ihm ist der be-
kannteste Verteidiger, ein hervorragender Kriminalist, dahin-
gegangen. Wenn er ein durch schiefe Aussagen, Unwahr-
heiten, Widersprüche, und teilweises Zugestehen der An-
geklagten fast unentwirrbar gewordenes Chaos von Tatsachen
vor sich sah, dann gelang es ihm regelmäßig, wenn auch oft
nach tagelangem Nachdenken, aus all den schier unvereinbar
erscheinenden tatsächlichen Momenten einen einheitlichen
Tatbestand aufzubauen, der sich in der späteren Verhand-
lung als unanfechtbar herausstellte. Sello hatte eben die
Phantasie, aus den gegebenen, oft auch aus nicht gegebenen
Daten die fehlenden zu finden und so den unerschütter-
lichen Unterbau für eine dann mathematisch sich zur
Durchführung seiner Rechtsauffassung entwickelnde Ver-
teidigung zu schaffen. Dazu kam, daß er für jeden Tat-
bestand auch sofort die passende, allein mögliche Rechts-
konstruktion zu finden wußte. Aber der Schlüssel zu seinen
ungewöhnlichen Erfolgen in seiner 33 jährigen Verteidiger-
lauf bahn lag in seiner Begeisterungsfähigkeit für eine ge-
rechte Sache. Stets erkannte er das Recht des Staates an,
den Schuldigen nach dem Gesetz zu strafen; war er aber
überzeugt, daß sein Klient im Sinne des Gesetzes nicht
schuldig war, so kannte er keine Grenzen in der Ver-
folgung des Zieles, einen Nichtschuldigen vor den Folgen
eines Fehlspruchs zu bewahren. Immer betonte er, daß
es nicht Aufgabe der Strafrechtspflege sei, unter Beiseite-
schiebung des Rechts „ der Moral“ Genugtuung zu verschaffen.
Für ihn gab es nur die Frage: schuldig oder nicht schuldig.
Dabei war Sello für seine Klienten kein bequemer Ver-
teidiger; da er die Hauptaufgabe der Verteidigung in der
Erforschung der Wahrheit sah, so ruhte und rastete er
nicht, bis er alle durch Zurückhalten der Wahrheit oder
Lügen entstehenden Widersprüche aufgeklärt hatte.
Bei all den großen Gaben des Verstandes, seinem
großen Können auf allen Gebieten, besaß er eine Gemüts-
tiefe, deren beredte Wiedergabe in einem formvollendeten
Stil nie ohne Eindruck blieb. Und doch möchte ich noch
höher als Sellos forensische Erfolge diejenigen seiner tief-
gründigen Arbeiten stellen, durch welche er die Eröffnung
eines Hauptverfahrens gegen einen Nichtschuldigen abzu-
wenden verstand. Wer aus eigener Praxis weiß, welches Un-
glück fast jede Eröffnung eines Hauptverfahrens über feiner
veranlagte Naturen und unschuldige Familienmitglieder
bringt, der wird es verstehen, wenn ich Sellos in der Stille
gebliebene Aktenerfolge am höchsten stelle. Seine Schutz-
schriften in Voruntersuchungen waren Meisterwerke
juristischer Wissenschaft und juristischer Technik. Nicht
unerwähnt bleiben darf aus seinen vielen publizierten
juristischen Arbeiten seine Studie über die Psychologie
der Causes celebres und sein 1911 erschienenes epoche-
machendes, leider unvollendet gebliebenes Werk „Die Irr-
tümer der Strafjustiz und ihre Ursachen.“
So möge denn dem leider viel zu früh Verstorbenen
die Erde leicht sein!
Justizrat Dr. Max Silber st ein, Berlin.

Personalien. Der ehemalige preußische Justizminister,
Staatsminister Dr. von Schönstedt, erreicht am 6. Jan. sein
80. Lebensjahr. Bereits im Jahre 1905 in den Ruhestand ge-
treten, hat von Schönstedt seitdem nicht nachgelassen, sein
Interesse an allen juristischen Vorgängen unvermindert zu

bekunden. Seine jugendliche Rüstigkeit und Geistesfrische
gestatten ihm, als Vorsitzender der Justizkommission des
preußischen Herrenhauses alle Arbeiten dieser Kommission
mit großer Umsicht und besonderem Geschick zu leiten und
dadurch nach wie vor an dem Ausbau unserer Rechtspflege
wesentlich mitzuwirken. lieber seinen Lebenslauf haben wir
bei seinem Ausscheiden aus dem Amte (S. 993,1905 d. Bl.)
eingehend berichtet. So dürfen wir uns heute darauf be-
schränken, dem Wunsche Ausdruck zu geben, daß ihm
seine Arbeitskraft und Arbeitsfreude auch in dem neuen
Jahrzehnt, das er jetzt antritt, treu bleiben mögen! — OLG.-
Präsident, Wir kl. Geh. Oberjustizrat Dr. Holtgreven,
Hamm, ist zum Wirkl. Geh. Rat mit dem Prädikat Exzellenz,
Prof. Dr. Biermer, Gießen, zum Geh. Hofrat ernannt worden.

Vereine und Gesellschaften.
In der Juristischen Gesellschaft zu Berlin hiel
am 9. Nov. 1912 JR. Dr. Ernst Springer (Berlin)
einen Vortrag über das Beweisverfähren im Zivil-
prozeß und seine Reformbedürftigkeit.1) Der Vor-
tragende erörterte die bekannten Mängel, welche sich durch
die tatsächlich bei den Kollegialgerichten in größtem Um-
fange üblich gewordene Uebertragung der Beweiserhebung
an den beauftragten oder ersuchten Richter herausgebildet
haben, während der auch in § 286 ZPO. aufgestellte
Grundsatz der freien Ueberzeugung des Gerichts als aus-
schlaggebendes Moment für die tatsächlichen Feststellungen
die eigene Kenntnis des Gerichts von dem Beweisvorgange
erfordert. Durch den berechtigten Ruf nach Unmittelbar-
keit der Beweisaufnahme solle man sich aber nicht ver-
leiten lassen, die Augen zu schließen gegenüber den
Fällen, in welchen auch künftig ein unmittelbares Beweis-
verfahren vor dem alsbald erkennenden Gericht selbst
nicht zu erzwingen sein werde; vielmehr seien die als
Ausnahmen betrachteten — jetzt leider fast zur Regel ge-
wordenen — Fälle der mittelbaren Beweisaufnahme mit
besonderen Kautelen zu umgeben, die ihr Ergebnis zu
einem einigermaßen ausreichenden Surrogate der eigenen
Beweisaufnahme des Kollegiums machen könnten. An
der vollen Informierung des Beweisrichters fehlt es, wie
Springer ausführte, regelmäßig, wenn die Hilfe eines
anderen Gerichts in Anspruch genommen wird; das Pro-
tokoll des Beweisrichters gibt bei Zeugenbekundungen in
der Regel nur das wieder, was der Richter als seinen
Eindruck von der Bekundung nach umständlicher Be-
fragung gewonnen hat, ohne daß das Gericht aus dem
Protokoll ersehen kann, ob die Aussage das Ergebnis
sicherer Bekundung war oder ob sie schwankend und un-
sicher, vielleicht anfänglich widersprechend, erst auf Vor-
halte und Fragen ihre Fassung erhielt.
Bei der Unmöglichkeit, den Beweisrichter durch die
jetzt übliche Verweisung auf die umständlichen Akten
zweckmäßig zu informieren, fordert Springer, daß einmal
der Beweisrichter von dem Prozeßgericht selbst so voll-
ständig informiert, wird, wie es dieses ist, daß also der
iVim zugehende Beweisbeschluß einen vollständigen Tat-
bestand (Sachdarstellung, nicht Aktenauszug) erhalten und
daß sein Protokoll den Hergang der Beweisaufnahme, das
Zustandekommen der Aussage, nicht nur das vom Be-
weisrichter schließlich als Endergebnis Betrachtete, wieder-
geben soll.
In der Delegierung der Beweisaufnahme an ein Mit-
glied des Kollegiums erblickt der Vortragende die ge-
ringere Gefahr gegenüber der Inanspruchnahme . aus-
wärtiger Richter. Die Vernehmung von Zeugen durch
1) Vgl Springer, „Reform des Zivilprozesses“ 1911, und
„Vorentwurf eines neuen Zivil-Prozefl-Gesetzes“ 1912. .

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