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XVIII. Jahrg. Deutsche Juristen-Zeitung. 1913 Nr. 19.
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grüßungsabend voraus. Die Teilnehmer versammelten
sich zu einer kurzen Begrüßungsfeier im Riesenbau
der Halle, bei welcher zuerst die neue Orgel in
mächtigen Akkorden erklang und dann der Aufgaben
der Anwaltschaft und dieser Tagung in einem Prolog
und in Ansprachen des Breslauer Ortsausschußvor-
sitzenden, Geh. JR. Feige, und des Vorstandsvor-
sitzenden, Geh. JR. Dr. Haber, gedacht wurde. Der
Feier folgte ein im Ring der Jahrhunderthalle ver-
anstaltetes Begrüßungsessen.
Den Verhandlungen selbst gingen Begrüßungs-
ansprachen des Geh. Regierungsrats Dr. Lu ca s für das
Reichs-Justizamt, des Geh. Oberjustizrats Burghardt
für das preußische Justizministerium und des Geh.
Justizrats Dr. Mannsfeld, Dresden, für das sächsische
Justizministerium sowie eine ausführliche Begrüßungs-
rede des Breslauer Oberlandesgerichtspräsidenten,
Exz. Dr. Vier haus, voraus.
Zum ersten Thema: „Reform der Rechtsan-
waltsordnung“ hatte der Vorstand des Anwalt-
vereins eine weise Beschränkung geübt; er hatte nur
5 Punkte, die Freizügigkeit, die Lokalisierung, die
Aenderung des § 5 Ziff. 5 RAO., das Strafensystem
und den Ehrengerichtshof für die Erörterung in Aus-
sicht genommen; der Verlauf der Verhandlungen
bewies, daß dies noch zu viel war. Die Fragen der
Simultanzulassung der Amtsgerichtsanwälte und die
Frage der Besetzung des Ehrengerichtshofes mußten,
teils wegen Ueberlastung mit anderen Verhandlungs-
gegenständen, teils wegen mangelnder Spruchreife,
vertagt werden. Um so eingehender konnten die
übrigen Punkte erörtert werden.
Auf Grund der vorzüglichen Referate von RA.
Dr. Friedlaender, München, u. JR. Dr. Harnier,
Kassel, welche trotz der Bedenken einzelner Dis-
kussionsredner schließlich die Grundlagen der Be-
schlußfassung blieben, wurden nach einer langen
Diskussion, an welcher sich u. a. die Parlamentarier
RAnwälteDr. Bassermann, Mannheim, und Heine,
Berlin, sowie JR. Rose, Harburg, RA. Höf lein,
Bamberg, RA. Gold Schmidt, Ostrowo, RA. Dr.
Drucker, Leipzig, JR. Fuchs I, Berlin, JR. Dr.
Heinitz, Berlin, und RA. Dr. Siehr, Königsberg,
beteiligten, schließlich folgende Thesen angenommen:
1. Freizügigkeit.
Solange die dringend zu wünschende einheitliche
Regelung des Vorbildungs- und Prüfungswesens in
Deutschland nicht erfolgt ist, kann auch die allgemeine
Freizügigkeit innerhalb des ganzen Deutschen Reiches nicht
eingeführt werden. Nach Erfüllung dieser Voraussetzung
ist die Freizügigkeit anzustreben.
2. Lokalisierung.
a) Der Grundsatz der Lokalisation (§ 8 Abs. 1 RAO.)
ist beizubehalten.
^ b) Befinden sich an einem Orte mehrere Land-
gerichte, oder gehören Teile eines Ortes zu mehreren
Landgerichten, so ist der bei einem dieser Landgerichte
zugelassene Rechtsanwalt auf seinen Antrag auch bei den
übrigen Landgerichten zuzulassen.
c) Eine Einschränkung des Rechtes der Substitution
ist nicht zu empfehlen,
j 3. Aenderung des § 5 Ziff. 5 RAO.
§ 5 Ziff. 5 RAO. soll folgende Fassung erhalten:
Die Zulassung muß versagt werden, wenn der Antrag-
steller nach dem Gutachten des Vorstandes der Anwalts-
kammer sich eines Verhaltens schuldig gemacht hat, das ihn der
Zulassung zur Rechtsanwaltschaft unwürdig erscheinen läßt.
Es empfiehlt sich dann folgende Ergänzungsvorschrift:
„Politische, wissenschaftliche und religiöse Ansichten
und Handlungen als solche können die Versagung niemals
rechtfertigen.“
4. Strafsystem.
a) Zwischen Verweis und 3000 M. Geldstrafe einer-
seits und der Ausschließung von der Rechtsanwaltschaft
andererseits ist eine Zwischenstrafe einzuführen.
b) Die Suspension (d. h. die Ausschließung auf Zeit)
ist als Strafmittel zu verwerfen.
Der zweite Verhandlungstag behandelte das
schwierige Thema der „Ermittelung der Wahr-
heit im Zivilprozeß“. Die Thesen waren von
den beiden Referenten JR. Dr. Heilberg, Breslau,
und RA. Dr. Mittelstädt, Leipzig, entworfen
worden. Das groß angelegte Referat des ersten
Referenten erledigte die Aufgabe, zu dem großen
Problem der Wahrheitsermittelung selbst Stellung zu
nehmen, während der Korreferent sich näher mit
der Erörterung befaßte, wie die Beweisaufnahme
zweckmäßig zu reformieren sei, und in Einzelpunkten
die Darlegungen des Referenten wertvoll ergänzte.
Beide Referenten stimmten in der Kernfrage —
in teilweiser Abweichung von einigen Sätzen des
Koffkasehen Gutachtens* — darin überein, daß der
Anwalt niemals bewußt etwas Unrichtiges vortragen
oder etwas Richtiges bestreiten dürfe, auch dann
nicht, wenn er durch ein solches Verhalten dem wirk-
lichen Rechte gegen das Unrecht zum Siege verhelfen
kann. Beide Referenten sprachen sich zugleich scharf
gegen die Einführung einer Lügenstrafe aus.
Ein Antrag der RA. Dr. Kann und Dr. Isay,
Berlin, wollte im Anschluß an das Ko ffka sehe
Gutachten die von den Referenten vorgeschlagene
These, daß es unzulässig sei, wissentlich unwahre
Behauptungen aufzustellen oder wahre Behauptungen
zu bestreiten, dahin abgeändert wissen, daß in Kon-
fliktsfällen ein Abweichen von diesem Grundsatz
dann in Frage kommen könne, wenn Gewissen und
Takt des einzelnen Anwalts das geböten; sie fanden
aber mit diesem Anträge nicht die Zustimmung der
Mehrheit.
Nach einer langen, interessanten Diskussion, in
welcher auch vielfach auf das Buch von JR.
Dr. Wildhagen, Leipzig, über die Zivilprozeß-
reform Bezug genommen wurde, und an welcher
sich u. a. RA. Dr. Isay, Berlin, JR. Dr. Wild-
hagen, Leipzig, RA. Dr. Kann, Berlin, JR. Koffka,
Berlin, RA. Dr. Hachenburg, Mannheim, RA.
Dr. Drucker, Leipzig, und die Justizräte Dr. Selig -
sohn und Dr. Heinitz, Berlin, beteiligten, wurden
schließlich folgende Hauptleitsätze angenommen:
1. Die Wahrheitsermittelung hat sich nur auf die
rechtlich erheblichen Anführungen zu erstrecken, soweit
diese bestritten sind, vorbehaltlich der von Amts wegen
zu berücksichtigenden Punkte.
2. Innerhalb dieser Grenzen ermöglicht erst eine ein-
gehende und genaue Ermittelung des Sachverhalts eine
dem Recht und den wirtschaftlichen Bedürfnissen ent-
sprechende Zivilrechtspflege.
3. Innerhalb der streitigen Tatsachen ist es unzulässig,
wissentlich unwahre Behauptungen aufzustellen oder wahre
Behauptungen zu bestreiten.
4. Die zweckmäßigsten Mittel zur Wahrheitserforschung
sind die kontradiktorische mündliche Verhandlung der
Parteien, unterstützt durch eingehende Erörterung der
Sach- und Rechtslage seitens des Gerichts, unter Ableh-
nung der Eventualmaxime.
5. Die Mitwirkung der Anwälte ist eine erhebliche
Erleichterung der Wahrheitsermittelung.
6. Die Gerichte dienen zweckmäßigerweise der Wahr-
heitsermittelung durch umfassende Beweiserhebung, all-
gemeine Fassung der Beweisschlüsse, eingehende Ver-
nehmung der Zeugen und Sachverständigen, möglichst
vor dem Prozeßgericht selbst.