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XVIII. Jahrg. Deutsche Juristen-Zeitung. 1913 Nr. 13.
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pflichtigen zugestanden oder die tatsächlichen Unterlagen
für ein bestimmtes erfolgreiches Spekulationsgeschäft
ermittelt sind. (Urt. V. Sen. Rep. IV a 173/12 v. 21.Dez. 1912.)
Gesellschaft m. b. H. Bei der Ermittelung des Ge-
schäftsgewinnns einer Gesellschaft m. b. H , darf die Staats-
einkommensteuer nicht in Abzug gebracht werden. (Urt.
V. Sen. Rep. VA 118/12 v. 25. Jan. 1913.)
Quellenänderung beim Gebäudebesitze. Eine wesent-
liche Aenderung der Einkommensquelle „Gebäudebesitz“
kann dadurch herbeigeführt weiden, daß der Steuerpflichtige
ein ihm gehöriges Gebäude, welches er bisher ganz oder
teilweise für seinen eigenen Gewerbebetrieb verwendete,
nur noch durch Vermietung oder Selbstbewohnung nutzt.
(Urt. VI. Sen. Rep. XIII c 81/12 v. 5. Febr. 1913.)
Braunschweigischer Verwaltungsgerichtshof.
Mitgeteilt vom Präsidenten Haßei, Braunschweig.
Reichsvereinsgesetz. §§ 2, 3, 17, 18. Die Polizei-
direktion Braunschweig hat die freie Turnerschaft daselbst
am 3. Dez. 1912 aufgelöst, weil sie wegen Zugehörigkeit
zum Arbeiterturnerbunde und mit Rücksicht auf ihr Be-
streben, unter ihren Mitgliedern sozialdemokratische An-
schauungen zu fördern, Einwirkung auf politische Angelegen-
heiten bezwecke; in Jugend- und Kinderabteilungen werde
politische Tätigkeit ausgeübt. Die Klage des Vereins be-
antragte Aufhebung der Verfügung, die auf unrichtiger
Anwendung des Vereinsgesetzes beruhe. Es wurde u. a.
festgestellt, daß der Arbeiterturnerbund „ ein vollberechtigtes
Glied in der Kette der Arbeiterbewegung sein will, mit
dem Bestreben, auch auf diesem Gebiete die Arbeitsbrüder
aus den Banden unwürdiger Bevormundung zu befreien“.
Den Jugendabteilungen ist das Bundesliederbuch „Der freie
Turner“ in die Hand gegeben oder zur Anschaffung emp-
fohlen. Der Kindeichor der freien Turnerschaft hat 1912
ein „Stille Nacht, heilige Nacht“ entstellendes „Weihnachts-
lied“ eingeübt. Im sozialdemokratischen Blatte wird zu
den Veranstaltungen eingeladen, insonderheit zur Weih-
nachtsfeier der Schüler- und Schülerinnen-Abt. 1912 mit dem
Bemerken, daß sämtliche Nummern des Programms von Kin-
dern der Mitglieder ausgeführt würden. Die von der Turner-
schaft gehaltenen Rekrutenabschiedsfeiern sind erörtert.
Die Klage wurde abgewiesen, da der Bund sowohl wie
der Verein auf das staatliche Leben einzuwirken bezwecken,
was nicht nur unmittelbar durch Bildung, sondern auch
mittelbar durch Förderung einer politischen Partei in ihrer
Organisation und inneren Erstarkung geschehen kann, indem
der Partei neue Mitglieder zugeführt und die vorhandenen
in ihrer politischen Ueberzeugungstreue gefestigt werden.
Zahlreiche Belegstellen des Handbuches des Arbeiterturner-
bundes beweisen, daß der Bund auf dem Boden des Parteitag-
beschlusses zu Nürnberg von 1908 steht, der die Er-
ziehung der Arbeiterjugend i. S. der proletarischen Welt-
anschauung den Organisationen zur Pflicht gemacht hat.
Die freie Turnerschaft Braunschweig ist ein politischer
Verein durch ihre Zugehörigkeit zum Arbeiterturnerbunde
und nach ihrer Betätigung, die von der sozialdemokratischen
Partei die Richtlinien erhält und sich mit der Parteiarbeit
in Förderung der sozialdemokratischen Ideen deckt; ent-
scheidend ist das Ziel, zu dessen Erreichung der Verein
wirkt; es genügt, daß er die Mitglieder zu Anhängern
einer bestimmten politischen Partei erziehen und dadurch
der lezteren Einfluß erhöhen will. Die Jugendturner sind
in der Satzung als Vereinsangehörige ohne Unterschied
von Alter und Geschlecht zum Bundesbeitrag verpflichtet.
Das Turnen des Vereins ist keine gesellige Veranstaltung,
da es wesentlich der Erfüllung der dem Verein gestellten
ernsten Aufgaben dient; es ist Vereinsversammmlung, die
nicht begrifflich Fassung von Beschlüssen fordert, sondern
jede aus dem Zweck des Vereins folgende Tätigkeit zuläßt.
Als politischer Verein darf die Turnerschaft Personen unter
18 Jahren nicht zu ihren nur dem Turnen dienenden Ver-
sammlungen zulassen; sie hat es getan und damit gegen
§ 185 VG. verstoßen, weshalb sie, da ihr Zweck diesem
Gesetze zuwiderläuft, aufzulösen war (§ 2 das.). (Urt.
v. 3. März 1913.)
Oberlandesgericht Kiel.
Mitgeteilt vom Oberlandesgerichtsrat Ermel, Königsberg.
Haftung einer Gemeinde für die sichere Einrich-
tung ihres Seebades; §§ 844, 823, 89, 31, 276, 254,
846 BGB. Im Familienbade der Gemeinde W. verun-
glückte 1908 ein Berliner Bankier beim Baden. Ein Bade-
gast rettete ihn, brachte ihn aber nicht mehr lebend an Land.
Seine Kinder haben die Gemeinde auf Ersatz der Beerdigungs-
kosten verklagt und Feststellung der Pflicht der Gemeinde
begehrt, ihnen für den Fall der Unterhaltsbedürftigkeit
durch Entrichtung einer Rente den Schaden zu ersetzen, den
sie insoweit erleiden, als ihr Vater ihnen während seiner
mutmaßlichen Lebensdauer unterhaltspflichtig gewesen sein
würde. Die Klage stützt sich auf § 844 BGB. Eine Haftung
aus dem Vertrage kommt nicht in Frage, weil zwischen den
Parteien kein Vertragsverhältnis besteht und die Ansprüche
in der Person des Verunglückten aus dem Vertrage zwischen
ihm und der Bekl. zur Benutzung des Familienbades nicht
hergeleitet werden können; denn der Verstorbene selbst
hat durch seinen Tod keinen Vermögensschaden erlitten.
Zur Feststellungsklage läßt sich zwar kein Vermögensschaden
der Kl. beziffern, weil sie Erben ihres vermögenden Vaters
wurden, aber die Möglichkeit des Eintritts eines Schadens
und ihrer Unterhaltsbedürftigkeit besteht; dies genügt zur
Begründung der Feststellungsklage (RG. DJZ. 1907 S. 357).
Das rechtliche Interesse an der Feststellung ist durch Be-
streiten der Bekl. und wegen der drohenden Verjährung gemäß
§ 852 BGB. gegeben. Das Gericht stellt ein Verschulden der
Bekl. gemäß § 823 BGB. fest. Die Anschläge in den
Badezellen enthielten keinen Hinweis auf die Unsicherheit
des Badens bei starkem Seegang; von den vorhandenen
beiden Schwimmern war einer unfähig, durch die Bran-
dung zu schwimmen und darin nicht unterwiesen worden.
Bekl. hatte keine Anweisung erlassen, wie das Rettungsboot
zu bedienen und die Rettungseinrichtungen zu handhaben
seien. Was dem einen Badegast nicht gelang, hätte bei
genügender Organisation des Rettungswesens den vereinten
Kräften der Bademannschaft gelingen müssen. Ein mit-
wirkendes, zu 1/4 bemessenes Verschulden des Vaters der
Kl. (§§ 2542, 846 BGB.) sei darin zu finden, daß er sich
als Neuling im Bade trotz starker Brandung in die vor-
derste Reihe der Badenden und damit in Gefahr begab.
(Urt. III. 205/12 v. 21. Dez. 1912).
Landgericht Essen.
Mitgeteilt von Landgerichtsdirektor Richter, Essen.
8 3996, 452 StrPO. Angekl. hat gegen ein auf Grund
§ 452 erlassenes, rechtskräftig gewordenes Urteil Wieder-
aufnahme des Verfahrens gemäß § 3995 beantragt. So-
fortige Beschwerde gegen den diesen Antrag als unzulässig
verwerfenden Beschluß erfolglos: Daraus, daß die Zulässig-
keit der Wiederaufnahme von Beibringung neuer Tatsachen
oder Beweismittel abhängt, folgt, daß bereits in einer
Hauptverhandlung eine sachliche Erörterung stattgefunden
haben muß; denn nur dann kann von Beibringung neuer,
d. h. anderer als der bislang vorgebrachten Tatsachen usw.
gesprochen werden. Diese Voraussetzung ist aber, weil
das Urteil ohne Eingehen auf die Sache selbst allein auf
die Versäumnis des Angekl. hin ergehen mußte, nicht er-
füllt, so daß der Antrag aus § 3995 überhaupt nicht ge-
geben ist. Andernfalls würde in einem Falle, wie vor-
liegend, das gesamte Vorbringen des Verurteilten als neues
angesehen werden müssen, womit er bei nicht schuldhafter
Versäumnis der Hauptverhandlung noch gehört werden
müßte. Das hat das Gesetz nicht gewollt. Daß der vor-
angegangene Strafbefehl gemäß § 449 die strafbare Hand-
lung und die Beweismittel usw. bezeichnet, ändert nichts.
Denn gegen den Strafbefehl lichtete sich der Wiederauf-
nahmeantrag nicht; er war nicht einmal zulässig, da er
nur gegen Urteile gegeben ist. Ein Strafbefehl steht einem
Urteile nicht gleich. (Strafk. 5, Beschw.-Inst. f. Strafs.
13 Q 629—12 v. 19. Dez. 1912.)