Full text: Deutsche Juristen-Zeitung (Jg. 18 (1913))

15.6.4. Der obligatorische Sühneversuch

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XVIII. Jahrg. Deutsche Juristen-Zeitung. 1913 Nr. 9.

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zu einer Entscheidung i. S. des § 102 ZPO. der Gerichts-
schreiber zuständig, und daß gegen dessen Entscheidung
nicht die Beschwerde, sondern Erinnerung gegeben sei.
1. Diese Ansicht ist m. E., was den ersten Punkt be-
trifft, unhaltbar. Schon der Wortlaut des § 102 spricht
dagegen, der dem Prozeßgericht die Befugnis erteilt,
die dort bezeichnten Personen zur Tragung der durch
grobes Verschulden veranlaßen Kosten zu verurteilen.
Hätte das Gesetz diese Befugnis dem Gerichtsschreiber
geben wollen, so hätte es dies zum Ausdruck bringen
müssen, wozu um so mehr Veranlassung war, als die Novelle
v. 1. Juni 1909 durch die §§ 103 und 104 die früheren
§§ 104 und 105 dahin abgeändert hat, daß das Kosten-
festsetzungsgesuch nicht mehr bei dem Gericht, sondern
bei dem Gerichtsschreiber anzubringen sei, und nicht mehr
das Erstere, sondern der Letztere über das Gesuch zu
entscheiden habe. Es wäre unverständlich, wenn die No-
velle nicht auch § 102 abgeändert hätte. In Literatur und
Rechtsprechung wird auch, soweit des § 102 Erwähnung ge-
schieht, stets nur vom Prozeßgericht oder dem Prozeß-
richter gesprochen.1) Auch der Ausdruck „verurteilen“
spricht dafür, daß die Entscheidung vom Gericht, d. i. dem
Prozeßrichter, zu erlassen ist, da dem Gerichtsschreiber
eine Befugnis zur V erurteilung nirgends beigelegt ist.
Wenn Grusen für seine Ansicht geltend macht, daß
die Novelle v. 1. 6. 09 dem Gerichtsschreiber für das
Kostenfestsetzungsverfahren richterliche Funktionen bei-
gelegt habe, so übersieht er, daß eine Entscheidung
nach § 102 überhaupt außerhalb des Kostenfestsetzungs-
verfahrens, erfolgt2), und hierdurch die im Urteil enthaltene
Kostenentscheidung — und nur diese bildet die Grundlage
des Kostenfestsetzungsverfahrens — unberührt bleibt3).
Damit entfällt aber auch, was Grusen über Aussetzung der
Entscheidung über die Mehrkosten und über Abänderung
des Festsetzungsbeschlusses ausführt.
Die Entscheidung aus § 102 setzt häufig eine gründ-
liche Kenntnis des materiellen Rechts und der hierzu
ergangenen Rechtsprechung voraus, eine Kenntnis, die dem
Gerichtsschreiber regelmäßig nicht zur Verfügung steht.
Man vergleiche nur die zu § 102 über die Frage, ob
grobes Verschulden i. S. dieser Vorschrift vorliegt, er-
lassenen Entscheidungen höherer Gerichte: so sieht das
RG. in der Nichtbeachtung eines in seiner ständigen Recht-
sprechung festgehaltenen Grundsatzes durch einen Rechts-
anwalt4 *), in der Vertretung einer nach der ständigen Recht-
sprechung aller Gerichte schlechthin aussichtslosen Rechts-
ansicht6), in der Einlegung einer Beschwerde, deren Un-
zulässigkeit weder in der Rechtsprechung noch in der Lite-
ratur bisher bezweifelt worden ist6), ein grobes Verschulden
nach § 102. Soll der Gerichtsschreiber hierüber ent-
scheiden, so müßte er selbst Literatur und Rechtsprechung
einigermaßen beherrschen. Und endlich: Nach § 102
können auch Gerichtsschreiber zu den von ihnen durch
grobes Verschulden veranlaßen Kosten verurteilt werden.
Wer soll z. B. bei einem kleinen Amtsgericht, an dem
nur ein Gerichts Schreiber sich befindet (und dies wird
bei den meisten der Fall sein), entscheiden, wenn dieser
die Kosten veranlaßt hat? Sich selbst kann er nicht wohl
verurteilen. Soll denn vielleicht die Entscheidung seinem,
ihn im Verhinderungsfall vertretenden Gerichtsschreiber-
0 Gaupp-Stein, Seuffert, Petersen; J. d. R. 06, 1
RGRspr.Z. 08, Nr. 426).
2) Vgl. Gaupp-Stein n. II zu § 102.
3f Von einer Anwendung des § 102 „im Kostenfestsetzungs-
erf ähren* kann daher auch keine Rede sein (vgl. RG. 14. April
1908, Warneyer JB. 1908 Nr. 426.
0 JW. 98, 413,i, 99, 277,6.
6) JW. 99, 424, 04, 118, 237.
6) JW. 03. 121.

gehülfen, seinem Untergebenen, überlassen bleiben? Oder
dem Gerichtsschreiber des übergeordneten Gerichts? Die
erstere Frage beantwortet sich von selbst, auf die letztere
bedarf es nur des Hinweises darauf, daß nach § 102 das
Prozeßgericht, d. h. das mit der Sache befaßte Gericht,
und nach §§ 103 f.» die Grusen angewendet wissen will,
der Gerichtsschreiber des Gerichts erster Instanz zu ent-
scheiden hat.
2. Vermag ich daher Crusen’s Ansicht hinsichtlich
der Zuständigkeit des Gerichtsschreibers nicht beizu-
treten, so gilt das Gleiche bez. des gegen dessen Ent-
scheidung gegebenen Rechtsmittels. Wie schon gesagt,
erfolgt die Entscheidung aus § 102 außerhalb des Kosten-
festsetzungsverfahrens; es kann daher auch keine Rede
davon sein, daß § 102 Abs. 3 hier seine Geltung verloren
habe — abgesehen davon, daß die Novelle dann diese
Bestimmung sicher beseitigt hätte. Die Erinnerung aus
§104 ist nur gegen den Kostenfestsetzungsbeschluß
gegeben, gegen die Entscheidung nach § 102 Abs. 1,
einerlei, ob sie, dem Gesetz entsprechend, das Prozeß-
gericht, oder, in unzulässiger Weise, der Gerichtsschreiber1)
erlassen hat, die sofortige Beschwerde.
Amtsgerichtsrat Hirsch, Giessen.

Der obligatorische Sühneversuch. Auf S. 843,
1912 d. Bl. stellt Dr. CI au ß die Forderung nach einer vor jedem
Verfahren obligatorischen Sühneinstanz in dem Sinne noch-
mals auf, daß er diese in größeren Städten auf die juristisch
geleiteten Rechtsauskunftstellen übertragen zu sehen wünscht.
Hiergegen nur einige wenige Einwendungen:
1. Grundsätzlich ist ein jedes Verfahren schädlich,
das die Erledigung des ordentlichen Prozesses verzögert.
Das muß wenigstens so lange angenommen werden, als
die Masse der Unzufriedenen immer noch auf dem m. E.
freilich völlig unrichtigen Standpunkt steht, der Prozeß
werde nicht schnell genug durchgeführt und hierfür seien
die Gerichte verantwortlich.
2. Nach Art. 48 des französischen C. pr. muß im
Prinzip ein jedes Verfahren durch einen Sühneversuch ein-
geleitet werden. Aber schon das Gesetz selbst sieht sich
genötigt, im folgenden Artikel eine ziemliche Reihe von
Ausnahmen zuzulassen, in denen ein Sühneversuch nicht
erforderlich ist. (Eine ähnliche Einschränkung müßte
zunächst bei uns ebenfalls geschehen; und zwar zum
mindesten in demselben Umfange wie in Frankreich —
dies kann freilich hier nicht näher ausgeführt werden —
und damit würde schon für einen erheblichen Teil der
Prozesse die Sühneinstanz überhaupt ausscheiden).
Die Praxis in Frankreich hat aber selbst diese zahl-
reichen Ausnahmen noch als viel zu gering empfunden. In
Paris hat sich das Institut der sogenannten requete auch
für diesen Fall eingebürgert, d. h. der Kläger erhält von
dem Präsidenten des Gerichts die Erlaubnis, ohne Sühne-
versuch zur Hauptverhandlung zu laden. Diese Erlaubnis
wird bereits erteilt, wenn ein Vergleich unter den Parteien
unmöglich erscheint, und dies wird schon dann als vor-
liegend angesehen, wenn der Beklagte nach Aufforderung
durch einen Gerichtsvollzieher sich weigert, den Kläger
zu befriedigen oder überhaupt keine Erklärung abgibt.2)
Man hat eben die Erfolglosigkeit der Sühne in diesen Fällen
erkannt und dem, entgegen der ausdrücklichen Vorschrift
des Gesetzes, in der Praxis Rechnung getragen. Dieselbe
Erfahrung würde man auch in Deutschland machen müssen.
In diesem Fall wird allerdings das Beschwerdegericht, ohne
zur Sache selbst zu entscheiden, die Sache zur Entscheidung an den
Vorderrichter verweisen müssen.
2) Vgl. Ha eg er, Der französische Zivilprozeß u. die deutsche
Zivilprozeßreform S. 92.

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