12.6.8.
Dürfen Vollstreckungsbefehle in Urschrift hinausgegeben werden?
(AR. Sindlinger)
12.6.9.
Erweiterung des Sühneversuchs im Privatklageverfahren
(RA. Lißner)
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XVIII. Jahrg. Deutsche Juristen-Zeitung. 1913 Nr. 6.
ihm im Sinne der §§ 130 ff. nicht zugegangen ist. Nimmt
der Postbote das Schreiben, das er abliefem sollte, aus
welchem Grunde immer sofort wieder zurück, so liegt ein
fehlgeschlagener Versuch der Bestellung vor; zugegangen
ist es dem Adressaten nicht.
Und hierin besteht gerade die Gefahr für den Ab-
sender des „eingeschriebenen“ Briefes. Ein solcher darf
nach § 39 Nr. VII (Abschn. V Abs. I) der Postordnung
v. 20. März 1900 bei Abwesenheit des bestimmten Emp-
fängers nur an ein erwachsenes Familienmitglied oder an
einen Bevollmächtigten desselben ausgehändigt werden.
Die Ablieferung unterbleibt also, wenn der Postbote eine
derartige Person in der angegebenen Wohnung oder dem
Geschäftsräume nicht antrifft, während ein gewöhnlicher Brief
schon durch Ein werfen in den dort angebrachten Brief-
kasten oder Uebergabe an einen Dienstboten oder Gehilfen
dem Adressaten zugeht. Der eingeschriebene Brief bietet
mithin zwar eine gewisse Sicherheit in Ansehung des Be-
weises des Eintreffens, nicht aber für die Rechtzeitigkeit
des Eingangs. Der Vermieter oder Mieter, der Hypo-
thekengläubiger oder Schuldner, der auf diesem Wege
kündigt, der Gläubiger, der behufs Inverzugsetzung mahnt,
um die Rechte aus § 326 geltend zu machen, der Ver-
tragsantragsempfänger, der das Angebot annehmen will
usw., kann eine arge Enttäuschung erfahren; er hat die
Frist, die seine Rechte wahren sollte, nicht eingehalten;
der eingeschriebene Brief, den er zu diesem Zwecke ab-
sandte, ist nicht rechtzeitig, sondern verspätet bestellt
worden, weil der Adressat z. B. infolge einer Reise ab-
wesend und ein zur Empfangnahme nach der angezogenen
Bestimmung der Postordn, geeigneter Dritter nicht vor-
handen war. Der gewöhnliche Brief hätte die Rechte des
Absenders gewahrt, der eingeschriebene hat nicht zum
Ziele geführt. Wer sicher gehen will, muß die formell’e
Zustellung der Willenserklärung unter Vermittlung des
Gerichtsvollziehers wählen. (§ 132); hier ist die Ersatzzu-
stellung im weitesten Umfange zugelassen (§§ 181 ff. ZPO.).
II. Die Rechtsprechung ist bemüht, die Unzuträglich-
keiten, die sich aus der Empfangstheorie für den Rechts-
verkehr ergeben können, tunlichst zu beseitigen. Sie
nimmt an, daß eine verspätet zugegangene Willenserklärung
unter Umständen als rechtzeitig zu gelten habe, und zwar
schlechthin im Falle der arglistigen Vereitelung des recht-
zeitigen Zugehens durch den Adressaten, aber auch dann,
wenn dieser durch Verschulden die Verspätung herbei-
geführt hat.1) Ein solches Verschulden liegt nach der
bemerkenswerten Entscheidung in RG. Z. 58, 406 schon
vor, wenn der Empfänger mit Rücksicht auf die Sachlage
damit rechnen mußte, daß der Absender ihm seine
Erklärung durch einen eingeschriebenen Brief über-
mitteln werde, trotzdem aber die Behändigung dadurch
verhinderte, daß er nicht zu Hause blieb und auch kein
Empfangsberechtigter dort angetroffen wurde.
Justizrat Bendix, Breslau.
Dürfen Vollstreckutigsbefehle in Urschrift hin-
ausgegeben werden? Es wurde eine weitere Aus-
fertigung des verlorenen Vollstreckungsbefehls nachgesucht.
Dem Antrag konnte nicht entsprochen werden, weil der
Gerichtsschreiber den Vollstreckungsbefehl auf die Ur-
schrift des Zahlungsbefehls gesetzt, mit dieser dem Gläu-
biger ausgehändigt und nur die Zustellungsurkunde zum
Zahlungsbefehl zurückbehalten hatte, wie dies § 4 Abs. 5
der württ. Justizministerial-Verf. v. 4. März 1910 (ABI. S.
49 ff.) vorschreibt. Ebenso die preuß. Geschäfts-O. § 24
Absatz 6.
0 Vgl. RG. JW. 04 S. 53 Nr. 11.
Dieses Verfahren ist nicht bedenkenfrei. Seit der
Novelle ist der Zahlungsbefehl v. A. w. zuzustellen. Bei
der Zustellung v. A. w. hat normalerweise auch die Ur-
schrift des zugestellten Schriftstücks solange bei den Akten
zu verbleiben, als die Zustellungsurkunde selbst, es sei
denn, daß beide überflüssig geworden sind; denn die Zu-
stellungsurkunde allein läßt nicht erkennen, was zugestellt
ist. Mit der Erteilung des Vollstreckungsbefehls sind aber
die Urschrift des Zahlungsbefehls und die Urkunde über
seine Zustellung bei den Akten nicht überflüssig geworden,
wie gerade der Fall des Verlustes des Vollstreckungsbefehls
zeigt. Es besteht ein Bedürfnis, die Zustellung des Zahlungs-
befehls, mit der u. a. die Wirkungen der Rechtshängigkeit,
der Verjährungsunterbrechung, eingetieten sind, auch jetzt
noch nachweisen zu können. Ebenso tritt offenbar das Be-
dürfnis nach einer weiteren Ausfertigung des Vollstreckungs-
befehls öfters hervor.1) Der Umstand, daß auch bisher —
vor der Novelle — eine weitere Ausfertigung nicht möglich
war, spricht angesichts der geänderten Zustellungsweise mit
ihren Folgerungen nicht für die Zulässigkeit des in den Ge-
schäftsordnungen vorgeschriebenen Verfahrens. Gaupp-Stein,
Novelle zur ZPO., § 699 unter IV und V sagt denn auch:
Der Vollstreckungsbefehl wird auf den Zahlungsbefehl, d. h.
auf die Urschrift des Zahlungsbefehls, gesetzt, die sich jetzt
bei den Gerichtsakten befindet. Seine Urschrift verbleibt
daher ebenfalls bei den Akten und es ist dadurch jetzt ab-
weichend vom bisherigen Recht die Erteilung einer weiteren
Ausfertigung des Vollstreckungsbefehls möglich. Zum
Zweck der Zustellung des Vollstreckungsbefehls im Partei-
betrieb hat der Gerichtsschreiber eine Ausfertigung des
Zahlungs- und Vollstreckungsbefehls zu erteilen.2)
Amtsrichter Sindlinger, Ulm.
Erweiterung des Sühneversuchs im Privat-
klageverfahren. Die zahlreichen Schwierigkeiten, die
sich aus den Groß-Berliner Verhältnissen ergeben, haben
bereits mehrfach ein Eingreifen der Gesetzgebung veran-
laßt. Es sei nur an den durch die Novelle von 1908 ein-
geschobenen Art. 91 a WO. und den Art. V des Gesetzes betr.
Aenderungen des GVG., der ZPO., des GKG. und der
GebO. f. RA. erinnert, durch die der Bundesrat ermächtigt
wurde zu bestimmen, daß benachbarte Orte im Sinne des
Art. 91a WO. und der §§ 499, 604 ZPO. als ein Ort
anzusehen sind. Die gleichen Verhältnisse, die zum Erlaß
der erwähnten Bestimmungen geführt haben, zwingen m. E.
auch zu einer Aenderung des § 420 Abs 2 StiPO.
Er stellt den Grundsatz auf, daß die Erhebung der
Klage wegen Beleidigung erst nach erfolglosem Sühne versuch
zulässig ist, macht aber für den Fall eine Ausnahme, daß
die Parteien nicht in demselben Gemeindebezirke wohnen.
Der Entwurf der neuen StrPO. behielt diese Bestimmung
unverändert bei (§ 383 Abs. 2 des Entw ). Die Beschränkung
auf den gleichen Gemeindebezirk erscheint im Hinblick auf
die Verhältnisse der wirtschaftlich zusammengehörigen Ge-
meinden Groß-Berlins als durchaus unzweckmäßig. Sie
hat zur Folge, daß der Sühneversuch lediglich wegen der
formalen Zugehörigkeit der Parteien zu verschiedenen Ge-
meindebezirken in zahlreichen Fällen unterbleibt, in denen
er ohne Schwierigkeiten stattfinden könnte. Sollen daher
die sozialen Vorteile des Sühneversuchs den Parteien in allen
Fällen zugute kommen, in denen der Zweck des Gesetzes
es erfordert, so ist eine Aenderung des § 420 Abs. 2 StrPO.
nach dem Muster der erwähnten Bestimmungen geboten.
Rechtsanwalt J. Lißner, Berlin.
0 Vgl. DJZ. 1901. 8. 456 und DRZ. III, S. 449.
2) Vgl. neuest ens besonders Gaupp-Stein, 10. Aufl. § 699
unter IV u. V und sächs. Geschäfts-O. §§ 14172, 1435».