Die Entlastungsverordnung vom 9. September 1915.
31
vorzuheben ist vor allem Coccejis kraftvolle Abwehr der Prokura-
toren, die er als eine wahre Pest der Zustiz bezeichnet, und sein
Bestreben, die Prozeßvertretung nur verantwortlichen, rechtsgelehrten
Advokaten zu überlasten.^) Diesem Standpunkte entsprach auch § 30
Tit. 7 Teil III der Allgemeinen Gerichtsordnung, der verordnete, daß
in allen Fällen die Parteien „sich der Assistenz der bei dem Gericht
angestellten und rezipierten Justizkommissarien" zu bedienen hatten.
Vergleicht man den Rechtszustand in Preußen mit demjenigen im
übrigen Deutschland bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts, so
ergibt sich, daß der preußische Grundsatz, wonach nur Anwälte den
geschäftsmäßigen Prozeßbetrieb für andere übernehmen durften, fast
überall in Geltung war und zahlreiche Verordnungen gegen Winkel-
konsulenten erlasten wurden, unter denen die württembergischen Edikte
vom 31. Dezember 1818 und 22. September 1819 hervorzuheben sind.
Tann aber hat in Deutschland die Beharrlichkeit in der Bekämpfung
des Winkelkonsulententums nachgelassen; es mag dahingestellt bleiben,
ob nicht unter dem Einfluß allgemeiner politischer Anschauungen über
oie Freiheit des Staatsbürgers. Auch der Widerstand der Gerichte
ist ein immer schwächerer geworden. Für Preußen mag das unver-
dächtige Zeugnis von Franz Hinschius genügen, der in der Deutschen
Anwaltszeitung 1865 (S. 766ff.) die offene Anklage erheben durfte,
„baß viele, vielleicht die meisten Gerichte das Treiben der Winkel-
konsulenten heute gänzlich ignorierten". Vergleicht man demgegen-
über die Rechtsentwicklung in anderen Kulturstaaten, so tritt uns
die bemerkenswerte Tatsache entgegen, daß fast überall eine freie
geschäftsmäßige Stellvertretung im Prozeß ausgeschlossen ist und
der Wettbewerb der Laienvertreter größeren Einschränkungen unter-
liegt, als dies in Deutschland der Fall ist. In Europa wie in den
Vereinigten Staaten, in den nordischen Reichen unseres Erdteils wie
in den Balkanstaaten; unter ganz verschiedenen wirtschaftlichen und
staatlichen Verhältnissen hat sich die Überzeugung durchgerungen, daß
eine freie gewerbliche Rechtsvertretung durch Laien mit den Bedürf-
nissen einer guten Rechtspflege unverträglich ist.
Selbst in der Schweiz, deren Gerichtsverfassung auf breitester
demokratischer Grundlage aufgebaut ist, ist die Freiheit der Prozeß-
vertretung nicht in allen Kantonen durchgeführt. Vielmehr ist in
Aargau, Appenzell, Berg, Freiburg, Tessin, Thurgau, Waadt und
33) Springer, Die Coccejische Justizreform (1914) 367ff.