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Die Urkundeninterpretation in der Revisionsinstanz.
letztere, wie es den Anschein gewinnt, der Fall, dann erscheint das
ausgesprochene Prinzip bedenklich. Die ausgesprochenen Gründe
können nur die Annahme rechtfertigen, daß sich in der thalsächlichen
Feststellung des Berufungsrichters möglicherweise ein Rechtsirrthum
verbirgt. Dem Urtheil fehlte die erforderlichen Entscheidungsgründe
und es war deshalb aufzuheben.
Der Mangel an Gründen kann auch in der Weise Vorkommen,
daß der Znstanzrichter umgekehrt den Willen der Partei lediglich aus
Grund der Urkunde ermittelt, die begleitenden Umstände aber ganz
außer Augen läßt. Für die praktische Beurtheilung ist dieser Fall
vielleicht der schwerste. Weil die thatsächliche Nachprüfung dem Re-
visionsrichter gänzlich entzogen ist, so wird er selten in der Lage sein,
das Urtheil, auch wenn er es für falsch hält, aufheben zu können.
Er wird dazu nur dann gelangen, wenn es nach der Fassung der
Entscheidungsgründe möglich ist, daß der Unterrichter, vielleicht ver-
anlaßt durch die in der Reichscivilprozeßordnung ausgestellten Beweis-
regeln, es rechtlich für unzulässig hielt, die begleitenden Umstände bei
der Interpretation des Vertragswillens zu berücksichtigen.
Zum Schluffe dieses Beitrags zur Erörterung einer unter den
Fachgenossen so sehr bestrittenen Frage möchte ich noch einen Punkt
berühren, welcher sich unmittelbar an die vorstehenden Ausführungen
anschließt, nämlich die Frage, wie weit kann der Revisionsrichter,
welcher ein Urtheil aushebt, auf Grund des Anhalts einer Urkunde
selbst erkennen?
Bekanntlich hat das Revisionsgericht in der Sache selbst zu ent-
scheiden, wenn die Aufhebung des Urtheils nur wegen Gesetzesver-
letzung bei Anwendung des Gesetzes auf das festgestellte Sachver-
hältniß erfolgt und nach letzterem die Sache zur Entscheidung reif
ist (R.C.P.O. § 528 Nr. 1).
Nach Sinn und Bedeutung dieser Bestimmung ist das „fest-
gestellte Sachverhältniß" identisch mit thatsächlichen Feststellungen,
also mit dem Prozeßstoff, welcher der Nachprüfung des Revistons-
richters entzogen ist. Thatsächliche Feststellungen kann derselbe über-
haupt nicht treffen. Daraus folgt, daß er eine Endentscheidung nur
abgeben kann, wenn sich dieselbe aus das Gebiet desjenigen Prozeß-
stoffes beschränkt, welcher seiner Nachprüfung unterliegt. Hängt daher
die Entscheidung lediglich vom Wortlaut einer Urkunde ab, so wird
sie abgegeben werden können; kommen aber für die Absicht der Kon-