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Zum 1. Januar 1900.
der Unsicherheit hindurch müssen, ehe wir seine Vorzüge werden genießen können.
Die Schärfe, die Folgerichtigkeit und der straffe Zusammenhang, die das deutsche
bürgerliche Gesetzbuch auszeichnen, erschweren zugleich außerordentlich seine Be-
herrschung; mit der Auslegung einzelner Bestimmungen aus sich selbst wird man
nicht weit kommen, stets wird man sich nach den Beziehungen zu den anderen Vor-
schriften umzusehen und mehr als bisher zu beachten haben, daß hier „ein Tritt
lausend Fäden regt" — wir müssen mithin darauf bedacht sein, uns sobald als
irgend möglich das ganze neue Civilgesetzbuch anzueignen.
Schon diese Aufgabe ist nicht gering, und doch kommt noch hinzu die ver-
wirrende Masse der Nebengesetze, Ein- und Ausführungsgesetze und der Ver-
ordnungen: wahrlich die Richter, denen in ihrer amtlichen Thätigkeit keinerlei Er-
leichterung geboten wird, und die Anwälte, die sich mit Rücksicht auf ihre Praxis
keine solche verschaffen können, sind jetzt über die Gebühr belastet, und die Worte
des Oberappellationsgerichtspräsidenten v. Langenn aus dem Jahre 1865;* **))
„Es möchte die Behauptung nicht übertrieben erscheinen, daß zu keiner Zeit
auf sächsischem Boden Richter und Sachwalter und überhaupt diejenigen, welche
... vermöge ihres Amtes und ihrer Pflicht die neuen Gesetze anwenden und hand-
haben sollen, so Vieles fast auf einmal zu durchforschen und sich eigen zu
.machen gehabt haben, als dies jetzt der Fall ist"
passen auf unsere Tage wohl, noch in verstärktem Maße.
Mit Gewißheit läßt sich deshalb auch für die nächsten Jahre Voraussagen,
daß die Prozesse länger dauern werden (weil die Anwälte zur Vorbereitung, die
Richter, zur Entscheidung mehr Zeit nöthig haben), und daß in manchen Dingen
eine gewisse Unsicherheit in der Rechtsprechung entstehen wird — eine einheitliche
feste Praxis kann sich eben auf einem über 50 Millionen Einwohner umfassen-
den .Gebiete nur langsam entwickeln.
. Indessen, darauf müssen wir Juristen, wie das rechtsuchende Publikum
gefaßt sein; das sind die Kinderkrankheiten des neuen Rechts, die uns nicht er-
spart . bleiben konnten und die überwunden werden müssen — wir • wollen uns
dadurch die Freude an der endlich errungenen deutschen Rechtseinheit nicht ver-
kümmern lassen.
Und wenn v. Langenn bei der Einführung des Sächsischen Bürgerlichen
Gesetzbuchs sagte?*) : .
*) Annalen des K. S. O.A.G. A. F. Bd. 6, <3.194.
**) Angez. Annalen a. a. O. S. 211.