22 von Mittelstaedt: Die Form der Mündlichkeit und Schriftlichkeit
laubniß erbitten muß, um in der mündlichen Verhandlung Geltung zu
haben, so wird im Wesentlichen die schriftliche Form des Prozesses ein-
geführt. Es handelt sich alsdann um Auslegung der Schriftsätze, und
rm Vordergründe steht die Frage: Was hat die Partei geschrieben?
Diese Untersuchung steht in erster Reihe vor der Gewißheit, daß die
Partei etwas Anderes meine. Die hier zu behandelnde Frage ist keine
andere als die: Inwieweit bildet das Vorverfahren die Grund-
lage der mündlichen Verhandlung? Es kann die Bedeutung des
Vorverfahrens für die mündliche Verhandlung in zweierlei Weise aus-
gefaßt werden: Entweder hat das Vorverfahren die Bedeutung, daß es
oie Behauptungen, welche in der mündlichen Verhandlung aufgestellt
werden sollen, ausdrücken muß, oder es hat nur die Bedeutung, daß es
den Parteien von dem tatsächlichen Umfange der mündlichen Ver-
handlung vorher Kenntniß geben muß. Entweder sind die Schrift-
sätze des Vorverfahrens die Information selbst oder sie
sind ein Mittel zur Information.
Diese Unterscheidung ist keinesweges subtilipr quam verior, son-
dern sie ist von den bedeutendsten praktischen Folgen; sie führt zu einer
bestimmten Erkenntniß der Bedeutung des Vorverfahrens für die münd-
liche Verhandlung. Wenn ein Gutsverwalter seinen früheren Prinzipal
aus Bezahlung einer produzirten Rechnung „für angekauftes Vieh" ver-
klagt, und der Verklagte erklärt in der mündlichen Verhandlung die
Behauptung der geschehenen Uebergabe des Viehes an ihn, der Zahlung
des Preises durch Kläger an den Verkäufer, der Angemessenheit des
Preises für unzulässige mm, so befindet sich ein solcher Verklagter
entschieden in dolo. Er will nämlich dem Richter weis machen, er
habe die freilich nicht ausgedrückten Behauptungen, „daß das Vieh ihm
übergeben, daß der Kläger die Zahlung des Kaufpreises geleistet, daß.
der Preis angemessen sei," in der Klage nicht finoen können. Freilich
ist diese, zu dem Unfuge der Abweisung der Klage wegen mangelnder
Substantnrung führende, offenbare Arglist im gemeinen Prozesse erlaubt,
und Parteien und Richter wetteifern in Erfindung von Spitzfindig-
keiten; die Partei zu dem offenkundigen Zwecke der arglistigen Benutzung
der Omission einer Anführung Seitens des Gegners, dre sie wohl entdeckt
bat, die sie aber lieber rügen als einfach verbessern will; der Richter zu
oem Zwecke, um sich auf solchem Umwege die ihm vom Gesetze versagte
freie Beurtheilung in den Fällen zu verschaffen, wo es gilt, eine dem
gesunden Menschenverstände, der Bmigkeit oder den guten Sitten wider-
sprechende Sache durch Verweisung ad calendas graecas zu bestrafen.
Der Verklagte erhebt den Einwand der Zahlung. In der münd-
lichen Verhandlung weist der Kläger nach, daß die Zahlung unmöglich
sei, weil die Schuld zu der Zeit, als die Zahlung geleistet sein soll, noch
gar nicht bestano. Der Verklagte behauptet nun, daß die Zahlung ein
Darlehn gewesen sei und die Schuld, welche freilich erst später ent-
standen sei, durch Kompensation getilgt habe. Der Kläger kann dieses
Vorbringen gewiß nicht für verspätet halten, weil ihm bei einigem
Nachdenken dieser der Zahlung gegebene Character und diese rechtliche
Wirkung derselben nicht entgehen konnte.