Full text: Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege in Preußen (Bd. 3 (1869))

und das sogenannte Prinzip der Mündlichkeit. , 19
alle Fälle sind freilich so klar, aber haben nicht in wirklichen Zweisels-
sällen die Parteien und der Richter Mittel zur Abwehr einer Rechts-
verletzung: Angebot von Kautionen, Vorbehalt der Geltendmachung der
neuen Behauptung im besondern Verfahren oder für die folgende In-
stanz? ja könnte nicht von dem in seiner allgemeinen Anwendung frei-
lich häufig vexatorischen guramentuw äo malitia, soviel wieder ausge-
nommen werden, daß es dem Richter freigeftellt würde, auf Parteiantrag
und Parteiangebot eine eidliche Vernehmung der Partei oder eidesstatt-
liche Versicherung des Anwalts zur Aufklärung wirklicher Zweifel zu
verordnen?
Wenn man sich vor dieser Macht des Richters zur Entscheidung
prozessualischer Fragen fürchtet, so verbißt man, daß dem Richter durch
den Grundsatz der freien Beweiswürdrgung eine ungleich größere, also
gefährlichere, Macht übergeben wird; und doch neigen sich fast alle
Stimmen diesem das alte System des Argwohns gegen den Richter
durchbrechenden Grundsätze gegenwärtig zu. In Wirklichkeit ist die
durch motivirten Parteiangriff und Parteivertheidigung geleitete Einsicht
des zur Entscheidung streitiger ofuaoZtioiws facti berufenen Richters
weniger zu fürchten, als die Herrschaft einer tobten Formel, welche, alle
individuellen Fälle mit gleichem Maaße messend, ihre rechtsverletzende
Wirkung nur durch angebliche Rücksicht auf Ordnung entschuldigt;
während es doch gerade'unumstößlich richtig ist, daß erne Formel die
Ordnung in den Prozeß nicht einführen kann. Mit der Formel findet
sich die Partei leicht ab; sie wird stets Wege finden, welche die Formel
nicht versperrt hat und der- demoralisirenden Spitzfindigkeit bleibt das
Thor geöffnet; mit dem Richter findet sich die Partei nicht so leicht ab,
wird vielmehr darauf hingewiesen, in eigenem Interesse sich wenigstens
derjenigen Chikane zu enthalten, bis zu welcher das Auge des Richters
reicht, um ein gefährliches Spiel zu vermeiden. 8)
Der Grundsatz des §. 324 des Preußischen Pro^eßgesetzentwurfes,
ivelcher dahin lautet: „das Gericht ist befugt, ein Angriffs- oder Verthei-
digungsmittel, dessen Berücksichtigung einen Vorbescheid oder ein Zwischen-
urtheu nöthig machen würde, als zur Berücksichtigung nicht geeignet, zu
verwerfen, wenn dasselbe nach seiner Ueberzeugung zum Zwecke des
Verschleifes der Sache geltend gemacht wird oder zurückgehalten ift"
weist die Eventualmaxime in ihre richtige Bahn. Derselben ist nach
diesem Grundsätze nur noch die Kraft einer Warnungstafel gegeben,
welche besagt: Auch diejenige Chikane, welche sich in Zurückhaltung er-
heblicher Thatsachen kund giebt, wird durchs den Richter berücksichtigt
werden. Anstatt daß die Eventualmaxime die Chikane abzuschaffen sich

8) Eigentümlich ist, daß der Preußische Prozeß, weicher die Eoentualmaxime
mit einer wahrhaft leidenschaftlichen Liebe für Ordnung sich zn eigen gemacht hat,
es doch nicht wagt, alle Thüren der Chikane zu verschließen. Daß der Eid bis zum
letzten Stadium des Prozesses zulässig ist, eine an sich höchst gerechte Bestimmung,
widerspricht der Eventualmaxime vollständig, denn der Beweisführer kann über zwan-
zig Fakta in zwanzig Sitzungen jedesmal einen Eid zuschieben.

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