10 von Mittelstaedtr Die Form der Mündlichkeit und Schriftlichkeit
zu dem Ziele der richterlichen Information hin; die Information des
Richters bedingt die Echtheit des Richterspruches, ist also die nächste
Grundlage für die Erreichung des Endzweckes des Prozesses. Und
dieser Grundsatz der ^Vollständigkeit und Sicherheit der richterlichen
Information, zu dessen Erreichung die Form der Mündlichkeit Mit-
wirken will, hat den Namen „Prinzip der Mündlichkeit" erhalten,
einen Namen, der von einem vereinzelten Mittel zur Erreichung des
Zweckes hergenommen, und um so verfänglicher ist, da auch die
Schriftlichkeit für die Vollständigkeit und Sicherheit der Information
des Richters nicht entbehrt werden kann.
Ein fernerer Grundsatz steht mit diesem Grundsätze der Vollstän-
digkeit und Sicherheit der Information des Richters in naher Verbin-
dung: das Ziel des Grundsatzes der Vollständigkeit und Sicherheit der
Information des Richters ist die Erreichung eines dem materiellen
Rechte entsprechenden Richterspruches. Diesem Ziele tritt ganz beson-
ders die Herrschaft des leblosen, alles Leben vernichtenden Formalismus,
der dem gemeinen Prozesse seine künstliche Ausbildung verdankt, in den
Weg. Eine naturgemäße Feindschaft besteht also zwischen dem Grund-
sätze der Vollständigkeit und Sicherheit der richterlichen Information
und der Herrschaft der Formel. Und weil man die Herrschaft der
Formel und ihre rechtsverweigernde Wirkung ganz besonders in dem
gemeinen Prozesse, also in einem schriftlichen Verfahren, kennen ge-
lernt hatte, so lag es nahe, den entgegengesetzten Grundsatz, die leben-
dige Gestaltung des Prozesses, die Bedingung für die Echtheit der
richterlichen Information, als mit der Schrift unvereinbar anzusehen,
und von diesem Gesichtspunkte aus für den Grundsatz der leben-
digen Information des Richters den Namen „Prinzip der
Mündlichkeit" zu erfinden.
So läßt sich also unter dieser Bezeichnung allerdings ein Grund-
satz denken, der auch den Grundsatz der Freiheit der Parteien und des
Richters einschließt, und den ganzen Prozeß beherrscht. Der Name ist
freilich falsch, und darum Jedem gefährlich, der an der Gewohnheit
leidet, durch ein Wort des Nachdenkens überhoben zu werden. Wenn
ich den Namen auch stehen lassen muß, so darf ich es doch beklagen^
daß die auf Grund dieses Namens über die natürliche Grenzen erwei-
terte Bedeutung der mündlichen Form eine Verwirrung in Juristen-
kreisen eingeführt hat, welche praktische Gefahren droht. Die Deduktion
ist einfach: „Ist die Mündlichkeit ein Prinzip, so ist die Schriftlichkeit
das entgegengesetzte Prinzip. Da sich zwei einander widersprechende
Prinzipien in einem Prozesse nicht vereinigen lassen, so muß eines von
beiden weichen. Die Durchführung des Prinzipes der Mündlichkeit be-
dingt also die Entfernung der Schriftlichkeit aus dem Prozesse." Die
Unrichtigkeit der Deduktion liegt eben in der Verwechselung der münd-
lichen Form mit dem Grundsätze, welcher mit dem Ausdrucke „Prinzip
der Mündlichkeit" bezeichnet zu werden pflegt. Auf Grund dieses Miß-
verständnisses vergißt man, daß beide, die Form der Schriftlichkeit und
die Form der Mündlichkeit, dem sogenannten „Prinzipe der Mündlich-
keit" zu dienen bestimmt sind. Der Erfolg beweist den Jrrthum: Es