Full text: Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege in Preußen (Bd. 3 (1869))

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von Mittelstaedt: Die Form der Mündlichkeit und Schriftlichkeit

soll? Die Beantwortung dieser Fragen wird versucht, indem die ver-
schiedenen Stadien des Prozesses der Einwirkung des Grundsatzes der
Vollständigkeit und Sicherheit der richterlichen Information ausgesetzt
werden. Nicht unter Voraussetzung absonderlicher Verhält-
nisse, aber unter Benutzung des Interesses der Parteien
und unter Voraussetzung der Rechtlichkeit und Qualifi-
kation des Richters sucht der Aufsatz einen Prozeß zu kon-
struiren, in welchem die Thätigkeit der Parteien und die
Thätigkeit des Richters, Beide befreit und in ihrer natür-
lichen Richtung wirkend, Beide getrennt und doch in ihrem
Ziele vereinigt, gemeinsam auf Erforschung der Wahrheit
gerichtet sind. Daß die Praxis manches Gerichtshofes sich bereits auf
dem Wege nach diesem Ziele befindet, ist regelmäßig der Gesetzgebung
nicht zu danken.

8. 1.
Die Bedeutung der Mündlichkeit und der Schriftlichkeit.
Der Zweck des Prozesses ist die Ermittelung und Fest-
stellung des wirklichen Rechtes aus dem Streite der Par-
teien. Wünschenswerth ist die Erreichung dieses Zieles auf dem kür-
zesten, darum schleunigsten und am wenigsten kostbaren Wege.
Da im Prozesse keine anderen Personen als die Parteien (resp.
Anwälte) und der Richter thätig sind, so liegt die Erreichung des
Zweckes des Prozesses in der Gewalt keines Anderen als der Parteien
und des Richters. Entweder wollen diese Personen den Zweck des Pro-
zesses aus dem kürzesten Wege erreichen oder sie wollen es nicht; ent-
weder können sie das Ziel erreichen, den richtigen Weg betreten, oder
sie können es nicht. Welchen Einfluß hat das Prozeßgesetz auf dieses
Wollen und auf dieses Können?
Zu unterscheiden ist die Funktion des Richters und die Funktion
der Parteien. Die Funktion des Richters besteht nach richtiger Auf-
fassung, in der Entwickelung des Rechtes aus dem ihm übergebenen
Streitmaterial; seine Thätigkeit muß sich also auf die Feststellung
des rechtlich relevanten Fakti aus dem Streitmaterial und auf die Ent-
wickelung des Rechtes aus dem festgestellten Faktum beschränken; die
Sammlung des Streitmaterials und der Weg, auf welchem dasselbe
gefunden wird, muß seiner Einwirkung entzogen bleiben. Die Beschaf-
fung des Streitmaterials liegt vielmehr lediglich den Parteien ob, und
ihre Pflicht ist es, sowohl den kürzesten WeA zur Aufsuchung des Streit-
materials zu wählen, als auch durch Vollständigkeit des Materials die
Herstellung des wirklichen Rechtes zu ermöglichen. Das Prozeßgesetz
kann nun freilich den Willen des Richters und der Parteien ebensowenig
wie ihre Fähigkeiten schaffen; das Prozeßgesetz kann aber den Parteien
die Freiheit in der Aufsuchung des Streitmaterials garantiren; es kann
den widerstrebenden Willen der ungerechten Partei unschädlich machen;
es kann dem Richter die Freiheit in der Behandlung des Streitmate-
rials garantiren; es kann also der gerechten Partei die Möglichkeit ge-

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