Full text: Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts (Bd. 61 = 2.F. 25 (1912))

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R. Müller-Erzbach,

wahren Sachverhalt in solchem Maße, daß noch heute in
Deutschland keineswegs anerkannt ist, daß damit verschiedene
Vorgänge nur begriffsjuristisch überdeckt sind. Es
sind in Wahrheit drei Beziehungen zu einer Sache geregelt:
1) Tatsächliche Herrschaft mit eigenem Herrschaftsinteresse. Das
ist der Fall des gewöhnlichen unmittelbaren Besitzes. 2) Tat-
sächliche Herrschaft, ohne hinreichendes eigenes Interesse am
eigenen dauernden Besitz, dem infolge dieses Mangels und
nur dieserhalb ein rechtlicher Besitzschutz versagt ist. Das ist
der Fall der sogenannten Besitzdienerschaft, für den das
Gesetz, unbekümmert um die wirkliche Sachlage, ein für alle-
mal das Gegebensein eines (offiziellen) „Besitzes" in Abrede
stellt. 3) Keine tatsächliche Herrschaft, wohl aber ein In-
teresse an der Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Herr-
schaftsverhältnisses und deshalb auch Rechtsschutz wie beim
wirklichen Besitz. Das ist der Fall des sogenannten mittel-
baren Besitzers, des Erbenbesitzers und desjenigen, der auf
Grund eines Tradiüonspapieres „besitzt". Diese Personen sind
in Wahrheit nur Besitzinteressenten. Es ist der Einfluß der noch
immer viel zu wenig gewürdigten Jnteressenlage^) auf
1) Am meisten pflegt die Bedeutung der sog. Jnteressenjuris-
prudenz von denen verkannt zu werden, die sich bemühen, ihre Ziele
als längst erkannte Wahrheiten auszugeben.
Neuestens ist Gerland (Verh. des 31. DJT. Bd. 2, 1912,
S. 857) wieder mit der Behauptung hervorgetreten, daß nicht der
Richter in erster Linie die Jnteressenlage zu prüfen habe, sondern
der Gesetzgeber, und daß die Jnteressenjurisprudenz die Aufgaben
des Richters und des Gesetzgebers miteinander verwechsele und ver-
menge.
Gerland bedenkt bei diesem etwas harten Urteile nicht, daß
mit der Jnteressenwürdigung von seiten des Gesetzgebers notwendig
die auf seiten des Richters verbunden sein muß. Wenn Gerland
die — freilich auch unbestreitbare — Tatsache zugibt, daß nach
seinen Worten das Gesetz Interessenausgleich ist, so ergibt sich aus
diesem Eingeständnis der unabweisbare Schluß, daß auch der Richter

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