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Georg Kuttner,
Zweck dieser Vermutungen nicht mehr zu erklären vermögen,
wenn !man in ihnen nicht zum mindesten Instruktionen des
Gesetzes an den Prozeßrichter erblicken wollte 2).
Aber ihr Einfluß auf die Tätigkeit des Prozeßrichters
ist ein anderer als derjenige der Tatsachenvermutungen^).
Die letzteren haben im Prozeß ihre Bedeutung nur in der
Lehre von der Beschaffung des Tatsachenmaterials. Sie ge-
hören in den Zusammenhang derjenigen Prozeßrechtssätze,
welche — gleich den Gesetzesbestimmungen über die Folgen des
Nichtbeftreitens, des Geständnisses, der unterbliebenen oder
verweigerten Erklärung über Eideszuschiebungen oder Privat-
urkunden — dem Prozeßrichter gebieten, eine behauptete Tat-
sache ohne Prüfung ihrer Wahrheit dennoch wie eine fest-
stehende Tatsache zu behandeln. Der Prozeßrichter muß sie
ganz anarchischen Zuständen käme, wenn dieselbe für und gegen alle
geltende Rechtsnorm nur von den Prozeßgerichten, nicht aber von
den übrigen Behörden respektiert und angewendet zu werden brauchte.
Die Rechtsvermutungen, wie übrigens alle gesetzlichen Vermutungen,
gehören zu denjenigen — von James Goldschmidt als „justiz-
rechtlich" bezeichneten — Rechtsnormen, welche nicht Gebote der Rechts-
ordnung an den Rechtsuntertan (Privatmann), sondern Gebote an
die Staatsorgane enthalten, und zwar Instruktionen an alle Staats-
organe für die Ausübung ihrer staatshoheitlichen Funktionen gegen-
über den Rechtsuntertanen, nicht bloß an die Prozeßgerichte. Vgl.
Kipp, Festschr. für v. Martitz S. 212—215, 219. Der richtigen
Ansicht über den Geltungsbereich der Vermutungen huldigt Köhler,
ArchZivPrax. 96, 364 f.; dagegen wollen ihnen ausschließlich Be-
deutung innerhalb der Grenzpfähle der Zivilprozesse beimessen:
Hedemann 196ff.; Rosenberg ZZP. 37, 319; Stein, ZPO."
§ 292 nach Note 3; Staudinger-Herzfelder §§ 2365/7,
Nr. II, 3 Abs. 5. — Vgl. auch BGB. § 69 (unten S. 172).
2) Auf ihre Verwertbarkeit im Zivilprozeß weisen die Motive
3, 153 ff. (für die Grundbucheintragung) und 5, 567 (für den Erb-
schein) ausdrücklich hin.
3) Hierauf haben besonders Fischer und Hedemann auf-
merksam gemacht.