58 Eugen Ehrlich,
spräche und der juristischen Schriften ausschließlich als
Literatur, als wissenschaftliche Ansichten über die Auslegung
der Rechtssätze, die nur daraufhin geprüft werden dürfen,
ob sie mit den Rechtssätzen übereinstimmen, und stets ge-
wärtigen müssen, widerlegt zu werden, wenn es sich zeigen
sollte, daß sie in den Rechtssätzen keinen Halt haben. Die
Ausführungen in den Richtersprüchen und juristischen Schriften
können daher nie zum Juristenrecht werden: jeder Richter
ist berechtigt, den bereits vorhandenen „Ansichten" über die
Auslegung des Rechtssatzes seine eigene Ansicht entgegen-
zustellen und sich nur an diese zu halten. Juristenrecht
setzt die Anerkennung voraus, daß der Jurist schöpferische
Arbeit leistet, die selbständige Jnteressenabwägung und Schutz-
gewährung voraussetzt.
Aber in Wirklichkeit kann die eigene Jnteressenabwü-
gung und Schutzgewährung des Richters bei der Anwendung
des Rechtssatzes wie bereits dargetan worden ist, unmög-
lich ausgeschaltet werden. Das ist eine Tatsache, hart und
unerschütterlich wie jede Tatsache, darüber kann auch die
herrschende Lehre nicht hinwegkommen. Daher hat es.
wenn auch nicht der Form, so doch der Sache nach, seit
jeher schöpferisches Juristenrecht gegeben. Was in den
angesehensten Werken juristischer Schriftsteller und in den
Spruchsammlungen der höchsten Gerichte gelehrt wurde, galt
immer durch seine eigene Kraft, nicht als Folgerung aus
einem anderen Rechtssatze. Es war Rechtssatz. Und so ist
es bis heute geblieben. Es ist eitel Spiegelfechterei, wenn
man diesen über die sinngemäße Auslegung des Gesetzes
weit hinausgehenden Rechtssätzen, die die Rechtsprechung be-
herrschen, die Eigenschaft eines Rechtssatzes abstreitet und
sie als bloße „Ansichten" der Juristen über den Sinn des
Gesetzes behandelt. Jedes angesehene Erläuterungswerk zu