Full text: Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts (Bd. 67 = 2.F. 31 (1917))

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Eugen Ehrlich,

Schutz, das er selbst höher bewertet. Er wird nicht einer
Entscheidung den Vorzug geben, die er nicht billigt, wenn
ihn dazu keine unmißverständliche Anordnung des Gesetzes
zwingt. Wer die unübersehbare gemeinrechtliche Literatur
über die Justinianische Konstitution, die die Voraussetzungen
der Novation neu geregelt hat, einigermaßen kennt, wird
zugeben, daß die gemeinrechtlichen Juristen, nachdem sie sich
überzeugten, daß das Gesetz keinen vernünftigen Sinn er-
gibt, nur mehr bestrebt waren, ihm den Sinn zu unterlegen,
den sie für richtig hielten: die bittere Bemerkung von
Puchta gegen Vangerow hat das übrigens deutlich aus-
gesprochen. Eine richterliche Entscheidung, die das Gesetz
nicht auslegt, sondern ihm einen eigenen Sinn unterlegt, ist
aber nicht mehr die Entscheidung des Urhebers, sondern des
Richters: der Richter ist dazu gezwungen durch die prak-
tischen Forderungen seines Berufs. Damit ist nicht gemeint,
daß der Richter berechtigt ist, den Rechtssatz nach seinen
eigenen Zweckmäßigkeitsgründen auszulegen: diese Lehre,
die heute vielfach vertreten wird, ist durchaus verwerflich.
Solange der Richter den Rechtssatz auslegt, hat er nach
den Zweckmäßigkeitserwägungen des Urhebers zu fragen,
nicht nach seinen eigenen. Dabei geht nicht nur die Zweck-
mäßigkeit, die er beim Urheber erkennt, sondern auch die,
die er bei ihm nur vermutet, seiner eigenen Zweckmäßigkeit
vor; denn in der Wissenschaft gibt es keine feste Grenze
zwischen Gewißheit und Vermutung, die wissenschaftliche
Gewißheit ist immer nur eine hohe Wahrscheinlichkeit. Die
eigene Jnteressenabwägung und Schutzgewährung des Richters
ersetzt erst dann die des Urhebers, wenn er das Auslegen
aufgibt, und das kann er nur tun, wenn er weiß, daß die
Auslegung zu keinem Ziele führt. Nicht das ist eine Zweck-
mäßigkeitsfrage, was die Auslegung ergeben soll, sondern

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