Full text: Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts (Bd. 67 = 2.F. 31 (1917))

280

Paul Kretschmar,

stellung ihres Sinnes nur um die richtige Reproduktion
eines bereits vollzogenen und der Gesetzesregel zugrunde
liegenden Werturteils, nicht um die Ergänzung einer Norm
auf der Grundlage eines selbst erst zu fällenden.
Dieser letztere Fall dagegen ist gemeint mit der „Frei-
gabe der teleologischen Betrachtungsweise in einem weiteren
als dem normalen Umfang". Er liegt überall dort vor,
wo das Gesetz den Richter anweist, die Norm unter Be-
obachtung des im Verkehr Ueblichen, aber zugleich auf einem
wertbeziehenden Standpunkt aufzustellen und den konkreten
Fall damit zu messen. Dieses Verfahren greift dort Platz,
wo die Erscheinungen des Verkehrslebens zu mannigfaltig
und zu verwickelt sind, als daß das Gesetz all ihren Kom-
binationen mit erschöpfenden Bestimmungen im voraus gerecht
werden könnte. Der bekannteste Fall ist die Verweisung
des § 242 BGB. auf „Treu und Glauben mit Rücksicht
auf die Verkehrssitte" zur Umgrenzung der Leistungspflicht
des Schuldners. Die Verkehrssitte bildet hier die objektive
Grundlage, auf deren Ermittlung der Richter verwiesen wird,
aber nicht ohne daß ihm ihre wertende Betrachtung nach Treu
und Glauben auferlegt wird; hiernach hat er dann die spe-
ziellere Norm zu bilden, welche er zur Entscheidung des ihm
vorliegenden Einzelfalls verwendet 48). Diese erweiterte Voll-
macht für die Rechtsanwendung stndet sich besonders, wenn
auch nicht ausschließlich dort, wo die Grundlage des Rechts-
verhältnisses auf gegenseitiger Verständigung der Parteien be-
ruht. Denn hier bilden sich besonders leicht typische Verkehrs-
48) Verwandte Gedankengänge s. bei W u r z e l, Das juristische
Denken S. 88 f., 88. Ueberhaupt gehört ein großer Teil der von
Wurzel so genannten „Ventilbegriffe" (S. 86 f. daselbst) in diesen
Zusammenhang. Auch berührt sich meine Auffassung mit der von
Kiß im ArchBürgR. 38 (1918) S. 221, 227 vertretenen (Sozio-
logische Rechtsanwendung intra legem).

Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.

powered by Goobi viewer