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Fritz Litten,
Occupation herrenloser Tiere gehandelt und von den Bienen,
Pfauen und Tauben gesagt, daß ihre „natura fera" sei, die
der Hühner und Gänse aber nicht, während es hinwiederum
von den Hirschen heißt „quorurn et ipsorum ferarn 6886
naturam v6wo negat“. Die aus dieser Unterscheidung ge-
zogene Konsequenz ist eine Verschiedenheit der Rechtsfolge. Die
Tiere mit „natura fera" gelten, wenn sie nicht von jemand
eingefangen sind oder von diesem derart gehalten werden, daß
sie den animus (— consuetudo) revertendi haben, als be-
liebig occupierbar, die anderen Tierarten, z. B. die
anseres et gallinae, verbleiben dem Eigentümer, auch wenn
sie noch so weit von ihm versprengt sind. Den Grund dieser
Entscheidungen enthält der bekannte Satz des Gaius (1. 3
§ 2 D. h. t.): „quidquid autem eorum ceperimus eo usque
nostrum esse intellegitur, donec nostra custodia coercetur:
cum vero evaserit custodiam nostram et in naturalem
libertatem se receperit, nostrum esse desinit et rursus
occupantis fit.“
Die Rechtsanschauung ist also diese:
Diejenigen Tiere, deren Natur als fera zu bezeichnen ist,
leben von Natur in Freiheit; nur sie können sich daher über-
haupt in eine ihnen von Natur zukommende Freiheit — die
naturalis feritas — zurückziehen.
Daß „ferus" hier aber nicht etwa auf eine Wildheit im
Sinne von „Bösartigkeit" weift, geht ganz klar aus der Auf-
zählung der Tiergattungen hervor. Die Taube hat doch jeden-
falls keine in diesem Sinne größere „Wildheit" als die Haus-
gans oder das Haushuhn. „Ferus" heißt hier also wild im
Sinne von „nicht gehalten", ein Sprachgebrauch, der auch uns
nicht fremd ist, wenn wir von „wilden Tauben", „wilden
Enten" sprechen oder sagen, daß der Kanarienvogel auf den
Kanarischen Inseln „wild" vorkommt.