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W. v. Blume,
Der Vormund handelt nicht nach pflichtge-
mäßem Ermessen, wenn er sich anders entschließt,
als ein ordentlicher Vormund in gleicher Lage
tun würde. Wie aber soll der Richter diesen Maßstab
finden? Er hat nur zwei Hilfsmittel: seine Erfahrung und
seinen Verstand. Seine Erfahrung lehrt ihn, wie andere ver-
ständige Menschen in ähnlicher Lage gehandelt haben; sein
Verstand sagt ihm, wie er selbst in gleicher Lage sich ent-
scheiden würde. So prüft er und sagt dann mit Josef (S. 117):
„diese Maßregel ist so unzweckmäßig, daß sie sich als eine
Pflichtwidrigkeit darstellt", oder mit Dernburg (S. 387):
„diese Handlung ist geeignet, das Wohl des Mündels zu
schädigen, also ist sie pflichtwidrig".
Wenn er aber diese Entscheidung getroffen hat, so hat er
durch geeignete Gebote und Verbote gegen die Pflichtwidrig-
keit einzuschreiten. Das kann verständigerweise nur heißen,
daß er durch seine Gebote und Verbote zu versuchen hat, die
pflichtwidrige Handlung oder Unterlassung zu verhüten. Denn
dem Wohle des Mündels, das der Vormund gefährdet, soll
der Vormundschaftsrichter durch sein Einschreiten dienen. Das
beste Mittel aber dazu ist Vorbeugung, da eine Wiedergut-
machung des eingetretenen Schadens nur allzu oft unmöglich
sein wird. Und man wird denn doch wohl annehmen dürfen,
daß das Gesetz dem Vormundschaftsrichter das Mittel in die
Hand geben wollte, das am besten geeignet ist, dem Zwecke
des Gesetzes zu dienen.
Also wären wir wieder dabei angelangt, daß nicht
der Vormund, sondern das Vormundschaftsgericht die Ent-
scheidung darüber hat, auf welchem Wege das Wohl des
Mündels zu erstreben ist? Ich meine: doch nicht, sofern nur
der Vormundschaftsrichter sich über die Grenzen seines Könnens
und seines Dürsens genügend klar ist.