Pfizer: Die Rechtskraft und deren Wirkungen :c.
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im zweiten materiell — nichtig (sententia nulla), das Urtheil,
welches auf einem Zrrthume des Richters über Thatsachen beruht
(Fall I.), ist einfach unrichtig, materiell ungerecht (sententiainiqua).
— Und weiter ist klar: von einer Fiktion der Wahrheit kann nur bei
dem einfach materiell ungerechten, nicht aber bei dem nichtigen Urthcile
die Rede fein; das erstere ist rechtskräftig und unanfechtbar, weil der
Thatbestand seststeht, wahr ist oder als wahr angenommen werden muß;
das zweite schafft Recht, nicht weil — sondern obgleich der konkrete
Thatbestand seststeht, aus welchem sich für den Rechtskundigen ergiebt,
was seither Rechtens war und noch jetzt Rechtens sein sollte; was man
mit handgreiflicher contradictio in adjecto die materielle Rechts-
kraft des materiell nichtigen Urtheiles zu nennen pflegt, ist die
Folge der formellen Rechtskraft, der Unanfechtbarkeit, während
beim gerechten Urtheile und bei der sententia iniqua die Vollstreckbar-
keit und (materielle) Unanfechtbarkeit eine Folge der materiellen Rechts-
kraft, der Rechtskraft des Thatbestandes ist; m. a. W.: wenn sowohl
gegen das nichtige als gegen das bloß materiell ungerechte Urtheil ein
Rechtsmittel zugelassen würde je mit der Beschränkung: die Feststel-
lungen des Thatbestandes dürfen nicht angefochten werden, so müßte
das erstere Urtheil abgeändert, das letztere bestätigt werden; denn nur
bei jenem, nicht auch bei diesem Urtheile könnte der Richter zweiter In-
stanz die Ueberzeugung gewinnen, daß das Urtheil erster Instanz, an-
statt das verletzte Recht wiederherzustellen, die Rechtsverletzung sanktionirt
habe; wenn wir mit Möser (vgl. Savigny System Bd. 6. S. 261.)
zwischen förmlichem Rechte und wirklichem Rechte unterscheiden wollen,
so können wir sagen: beim nichtigen Urtheile muß der rechtskundige Richter
erkennen, daß das förmliche Recht ein anderes ist als das wirkliche
Recht, denn hier hat er an dem Gesetze einen untrüglichen Prüfstein
für die Richtigkeit der Entscheidungsgründe und des darauf gebauten
Urtheiles; untrüglich, sofern vollständige Kenntniß des positiven Rechtes
keineswegs ein Ding der Unmöglichkeit ist; beim hloß materiell unge-
rechten Urtheile wird auch der scharfsinnigste Richter häufig nicht in der
Lage sein, zu sagen, ob hier das förmliche Recht mit dem wirklichen
Rechte übereinstimme oder nicht; denn die objektive Grundlage des Ur-
theiles, der Thalbestand, beruht auf der subjektiven Würdigung der dem
Richter vorgeführten Thatsachen und Beweismittel, und ob dem Richter
zweiter Instanz reinere Erkenntnißqueüen für das Thatsächliche des
Falles erschlossen werden, als dem Richter erster Instanz, hängt wesentlich