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Es ist in der That unbegreiflich, daß die Vertheidiger dieser
neuen Lehre die Inconsequenzen nicht fühlen, in welche sie sich
verwickeln. Der stärkste aller Triebe ist gewiß der Geschlechts=
trieb. Müßte also nicht nach solcher Theorie auch Nothzucht,
Chebruch u. s. w. als nicht zurechnungsfähig, und also straf¬
frei erklärt werden, sobald der Thäter nachweisen könnte, daß er
an der Geschlechtsmonomanie litte, welches leider in jetzigen Zei¬
ten nicht schwer seyn würde.
Müßten wir nicht auch nach dieser Theorie den, der in der
Trunkenheit ein Verbrechen begeht, für straflos erklären; denn er
handelte ja auch nicht frei und also unzurechnungsfähig?
Und dennoch straft eine weise Obrigkeit diese Verbrechen
so gut
wie andere; sie straft nicht sowohl die That, als daß der Thäter
sich in den Zustand versetzte, der die That möglich machte.
Fixe Ideen, Geistesverirrungen; thun das Nämliche,
aber
noch neulich verurtheilte die dänische Regierung, nach meiner Mei¬
nung mit vollem Recht, den unglücklichen Vater zum Tode, der
in einem solchen Gemüthszustande das unnatürlichste aller Ver=
brechen —
allerdings nur in einer Art von Wahnsinn möglich-
begangen hatte, seine eignen 4 Kinder um's Leben zu bringen."
Heißt es also nicht geradezu, die Leidenschaft, die Thierheit
im Menschen, die Immoralität und Irreligiosität sanctioniren
und legalisiren, wenn man die Ausbrüche derselben unter dem
Namen Monomanie entschuldigen und gesetzlich straflos er¬
klären wollte? — Denn man vergesse doch nicht die rückwirkende
Kraft der Strafe, und daß die Furcht vor derselben, selbst in ei¬
nem solchen Zustande, die Seele von der Ausübung der That zu¬
rückschrecken kann. — Sehen wir nicht, daß selbst im Schlafe
die Erinnerung an die Strafe Kinder von gewissen Unarten ab¬
halten kann? — Höchst merkwürdig ist hierüber das Beispiel,
was uns alte Geschichtsschreiber erzählen. Es war auf einer
Griechischen Jnsel der Wahnsinn bei jungen Mädchen allgemein
geworden, sich, nach dem Vorgang der Sappho, in der Liebes¬
wuth den Tod zu geben. Die Obrigkeit fand endlich kein ande=
res Mittel, dem Unwesen zu steuern, als den Leichnam einer sol¬
chen Selbstmörderin auf die entehrendste Art nackend durch die
Straßen schleifen zu lassen. Dies allein half. —
Die Furcht
vor dieser Schande, vor dieser Entehrung nach dem Tode, über=
wog den mächtigen Trieb zum Selbstmord und er unterblieb.
Sollte man nicht bei der jetzt leider immer mehr überhand
*) S. das vorige Heft S. 110 — 122.
D. H.
Voage
Staatsbibliothek
Max-Planck-Institut für
zu Berlin