Full text: Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechts-Pflege (Bd. 3 = H. 5/6 (1829))

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Mensch ist allerdings nur als ein Kranker, als ein Unfreier zu 
betrachten, aber keineswegs hebt dies die Zurechnungsfähigkeit 
und Verantwortlichkeit bei nun vollbrachter That auf. Denn 
eben darin liegt die Strafbarkeit und Zurechnungsfähigkeit, daß 
er jenen Trieb so weit kommen ließ, daß er am Ende in einen 
solchen Zustand von partiellem Wahnsinn (wenn man es so nen¬ 
nen will) gerathen konnte. Es ist der nämliche Fall, als wenn 
Jemand in der höchsten Leidenschaft ein Verbrechen begeht. Im 
Moment der That ist er freilich auch ein Unfreier, ein Wahn¬ 
sinniger, aber dies hebt die Schuld, das Verbrechen, nicht auf. 
Die Vorzeit (und noch jetzt der gemeine Mann) kannte diesen 
Zustand recht gut, und bezeichnete ihn mit den Worten: „der 
Teufel hat mich besessen" oder auch „geritten" — ganz passend 
man braucht nur unter dem Teufel das zur Herrschaft gelangte 
böse Prinzip zu verstehen; — aber die Obrigkeiten nahmen nicht 
die mindeste Rücksicht auf diese Entschuldigung, die mit der jetzi¬ 
gen, der physischen Nothwendigkeit, zusammenfällt, sondern be¬ 
straften den Verbrecher. 
An die Stelle des Teufels ist jetzt die Organisation, 
der körperliche Einfluß, die Krankheit, getreten, und als Verthei¬ 
diger derselben — hier wahre Avvocati del Diavolo 
die Aerz 
te. — Wir geben als Aerzte gerne zu, daß Seele und Leib in 
gegenseitiger Verbindung stehen, ja daß jeder Trieb sein Organ 
habe, ferner, daß durch Begünstigung des Triebes das Organ 
genährt werde, so wie umgekehrt durch die Macht des Organs 
der Trieb, ja zuletzt bis zur Unwiderstehlichkeit. — Aber ist es 
nicht das Nämliche, was wir vorhin sagten, nur in körperlicher, 
materieller Ansicht ausgedrückt? — Fällt nicht eben Organ und 
Trieb in Eines zusammen? Und bleibt es nicht eben die Schuld 
des Menschen, daß durch Begünstigung des Triebes sein Organ 
einen so übermächtigen Einfluß erhalten hat, oder, wenn er von 
Natur oder durch Krankheit zu stark war, daß er ihn nicht durch 
Vernunft und Religion bekämpft, und so selbst dem Organ seine 
Nahrung entzogen hat? Denn daß dieses durch mangelnden See¬ 
leneinfluß und Seelenreiz bewirkt werden könne, das zeigt uns 
das Schwinden der Testikel und die Verminderung der Saamen= 
erzeugung bei denen, welche lange in strenger Enthaltsamkeit 
das heißt nämlich nicht bloß physischer, sondern auch psychischer, 
gänzlicher Ableitung der Seele von der Sinnlichkeit und Rich¬ 
tung derselben zu ernsten abstrakten Gegenständen — fortleben, 
Es versteht sich, daß hier überhaupt nicht von vollkommnem 
Wahnsinn, der allerdings körperlich bedingt seyn kann, die 
Rede ist. 
ge 
Staatsbibliothek 
Max-Planck-Institut für 
zu Berlin
	        
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