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Kommentar über Beccar. Werk.
Man sah vor nicht gar langer Zeit in einer sehr
reichen Stadt ein achtzehnjaͤhriges Madchen von aus¬
serordentlicher Schönheit aufhängen. Was war ihr
Verbrechen? Sie hatte ihrer Frau, einer Gastwir¬
thin, die ihr ihren Lohn nicht bezahlte, achtzehn Ser¬
vietten genommen.
Der Pöbel, der solchen Schauspielen zuläuft, wie
den Predigten, weil hier der Einlaß nichts kostet, zer¬
schmolz in Thränen; und keiner hätte es gewagt, das
Opfer zu befreien, obgleich all gern die Barbarin ge¬
steinigt haͤtten, die sie hinrichten ließ.
Was ist die Folge jenes unmenschlichen Gesetzes,
das auf die Art ein kostbares Leben mit achtzehn Ser=
vietten in eine Waagschale legt? Das die Dieb¬
stähle vermehrt werden. Denn wo ist der Hausherr,
der es wagt, alles Gefühl von Ehre und Mitleid so
sehr zu verlängnen, daß er seinen Bedienten, der ein
so kleines Unrecht begangen, hingiebt, und vor seiner
Thure haͤngen läßt? Man begnügt sich ihn fortzu¬
jagen; er geht hin und stiehlt wo anders, und wird
oft ein Straßenraͤuber. Das Gesetz hat ihn dazu ge¬
macht, es ist Schuld an allen seinen Verbrechen.
In England hat man noch das Gesetz nicht ab¬
geschaft, das jeden Diebstahl, der über zwölf Sols
beträgt, mit dem Tode bestraft. Wahrhaftig sehr
wohlfeil! Uebrigens bringt die Entwendung der ge¬
ringsten Möble in einem königlichen Pallast an den
Galgen, und man hat Beispiele davon. Geschieht
das um ein Unrecht gut zu machen, das dem Kö=
nig
Vorage
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DFG
europäische Re
chtsgeschichte
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