Full text: ¬Die Agrarfrage der Gegenwart (1)

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Theil des Reiches erbte meistens der älteste Sohn 
(Majorat), mitunter auch die älteste Tochter oder selbst 
das jüngste Kind (Minorat) das Gut. Dazu erhielt 
der Erbe das Vieh. die Hauseinrichtung, die Betriebs 
werkzeuge. Die übrigen Geschwister blieben meist auf 
dem Hof als Dienstboten, aber in besonders günstiger 
Stellung, vielfach auch zogen sie mit einer kleinen 
Abfindungssumme versehen, in die Weite und suchten 
sich in den Städten, im Handwerk- und Waffendienst 
u. s. w. Unterkommen. Auch sonst sorgte das Gesetz 
dafür, daß der Hof in betriebsfähigem Zustande blieb 
so konnte der Erbe gegen die Verschuldung desselben 
Einspruch erheben und brauchte (nach dem Sachsen 
spiegel) Schulden blos zu bezahlen, soweit die fahrende 
Habe dazu ausreichte.*) Diese gesetzliche Vor 
sorge gegen Verschuldung galt unsern prak 
tischen Vorfahren besonders wichtig und findet sich 
wieder bei der aufstrebenden Landwirthschaft in Nord 
amerika. 
Neben diesen ganz freien Bauern bestand eine 
Menge halbfreier, die eine Gutsherrschaft über sich 
hatten, sei es ein weltlicher oder geistlicher Fürst, ein 
ihm diese Einrichtung nicht entgangen, wenn sie bei den da 
maligen Germanen bestanden hätte. 
Auch hier tritt wieder die segensreiche Wirksamkeit der 
volkswirthschaftlichen Gesetzgebung der Kirche hervor. Sie 
verbot den Zins in seiner capitalistischen Form, d. h. 
unter Vorbehalt der Zurückzahlung des Capitals. 
Die Folge war der Renten kauf, wobei man das Capital 
für immer hingab, aber sich eine ewige Rente davon vorbe 
hielt, also eine Rente kaufte, die meist 5% vom Capital 
betrug. Die Landwirthschaft, die ja ohne Capital sich 
nicht aufschwingen kann, erhielt dadurch, besonders in den 
besseren Jahrhunderten des deutschen Mittelalters, eine Menge 
Gelder, die sie blos zu verzinsen, aber nicht mehr 
zurückzuerstatten brauchte. Auf diese Weise konnte 
sie sich zu hoher Blüthe entwickeln. Man hatte damals noch 
keine Maschinen und künstlichen Dünger, keine Kenntniß der 
Chemie und keine landwirthschaftlichen Musterschulen, dennoch 
aber befand sich die damalige deutsche Landwirthschaft in Folge 
dieser gesunden Creditorganisation und der Ehre, deren sich 
die Arbeit damals erfreute, auf einer Höhe, welche, relativ 
betrachtet, die in der Gegenwart weit überragt.
	        
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