Full text: ¬Die Agrarfrage der Gegenwart (1)

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gemeinen Conjuncturen. Die Ueberfuhr des deutschen 
Marktes durch das Ausland bestehe nicht! Niendorf 
ließ sich nicht träumen, wie bald sich sein wergwerfen 
des Urtheil über die Noth der deutschen Eisenindustrie 
auf die Lage der deutschen Landwirthschaft anwenden 
ließe und daß die Freihändler binnen wenigen Jahren 
mit denselben Worten, die er anwandte, die Agrarier 
bekämpfen würden. Damals aber stimmten die 
Agrarier noch den Protesten gegen den Schutzzoll ein 
stimmig bei. 
Damit ihr Name nicht gefährlich klinge, nannten 
sich die Agrarier dann „Vereinigung der Steuer 
und Wirthschaftsreformer". Noch am 22. 
Februar 1876 erklärte diese Vereinigung: „Auf 
der Grunlage des Freihandels stehend sind wir Gegner 
der Schutzzölle." Im selben Jahre stimmten die Agra 
rier im Reichstage für Aufhebung der Eisenzölle, aber 
schon am 16. Februar 1877 erklärten die Steuer 
und Wirthschaftsreformer den absoluten Freihandel 
„als durchaus unausführbar," wenn sie auch da 
mals „noch keine besonderen Schutzölle für einzelne 
Industriezweige" wollten. Die Schwenkung war ein 
getreten und vollzog sich jetzt immer schneller. Die 
selbsteigensten Interessen der Landwirthschaft, verbunden 
mit der aufdämmernden Erkenntniß von den schlimmen 
Folgen der bisherigen liberalen Wirthschaftspolitik des 
Reiches, über deren tiefere Ursachen man sich aller 
dings nicht klar war, verursachten den Umschwung. 
Auch machte sich vielfach schon ein dunkles Gefühl 
christlichen Widerstandes gegen den herrschenden Capi 
talismus geltend. Im Grunde aber war es dasselbe 
wirthschaftliche Standesinteresse, das die Land 
wirthe einst Freihändler sein ließ und das sie unter 
veränderten Verhältnissen zu Schutzzöllnern machte. 
Höhere nationale Gesichtspunkte bleiben ja solchen Er 
wägungen meist fern. Es soll dies kein Vorwurf sein, 
denn von Niemand kann man vertangen, daß er gegen 
seine wirthschaftlichen Interessen handle, im Gegentheil 
weisen diese stets jedem Stand seine social-politische 
Stellung zu.
	        
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