IX. Provinz Brandenburg.
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In der Uckermark und in der Neumark mit ihren slavischen Über
lieferungen hatte die historische Entwicklung dahin geführt, daß der Bauer
unterdrückt ward und durch die Bauernbefreiung in eine schwierige
Lage geriet. Da ihm ein festes Besitzrecht erst seit kurzer Zeit zusteht,
konnten sich nicht leicht jene aristokratischen Empfindungen entwickeln, die
den Bauern in den westlichen und mittleren Teilen der Provinz auszeichnen.
Hier in der alten Mark Brandenburg hat es die Bauernschaft verstanden,
die Traditionen der alten freien deutschen Kolonisten zu wahren; ihre
Rechtslage ist daher immer eine gesichertere und geachtetere geblieben.
Wenn sich im Regierungsbezirk Potsdam der Besitzwechsel in 4/5 aller Fälle
durch Erbgang vollzieht, dann beweist das eben, wie fest hier der Bauer
auf seiner Scholle sitzt.
Wo aber der kapitalistische Geist die Familien ergriffen und die Aus
einandersetzung im Erbgang beeinflußt hat, da hat auch der Wohlstand der
Landbevölkerung erheblichen Schaden durch hohe Verschuldung erlitten, die
dann ihrerseits wieder häufig den jeweiligen Käufer oder Übernehmer zwingt,
nach kurzer Zeit den Hof aufzugeben; das Grundeigentum ist zum Speku
lationsobjekt geworden und die grundbesitzenden Familien werden entwurzelt.
Wer solche Folgeerscheinungen nicht gut heißt, muß wünscheu,
daß die Anerbensitte gestärkt und das geltende Intestaterbrecht mit dieser
Erbsitte in Einklang gebracht wird. Denn es ist kein Zweifel, daß das
geltende Recht dazu beigetragen hat, die Mobilisierung zu fördern, und es
entsteht daher die Aufgabe, der überkommenen Sitte dadurch die gebührende
Anerkennung im geltenden Rechte zu verschaffen, daß man das Anerbenrecht
für alle selbständigen Landgüter zum gesetzlichen Intestaterbrecht erhebt.
Ein solcher Vorgang erscheint durch die Staatsraison geboten. Niemandem
würde auch dadurch zu nahe getreten werden: den weichenden Erben nicht,
weil, wie es sich gezeigt hat, gerade die Anerbensitte den Wohlstand der
Familien erhält und darum auch zur reicheren Ausstattung der Abfindlinge
beiträgt, — aber auch nicht jenen Großunternehmern, welche ganz von
kapitalistischem Geiste erfüllt sind und in dem Grunderwerb nur eine Er
werbsquelle sehen; denn es steht nichts im Wege, daß sie durch freie Ver
fügung eine ihnen genehme Regelung ihrer Vermögens- und Familien
verhältnisse herbeiführen. Was wir aber brauchen, ist das gesetzliche Intestat
erbrecht, welchem die dem Allgemeinwohl entsprechende Erbsitte und nicht
die Anschauung der Bodenspekulanten ihren Inhalt geben muß.