VI. Provinz Hannover.
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Eben deshalb ist die Erbsitte gleichartig. Denn das alte Grunderbrecht
war bereits im 18. Jahrhundert ziemlich gleichmässig gestaltet.*) Wesent
liche Verschiedenheiten, wie die des ehelichen Güterrechts, sind bis zur
Gegenwart erhalten geblieben.
Diese Übereinstimmung zwischen der gegenwärtigen Erbsitte und dem
alten Recht ist nicht im geringsten auffällig.
Zunächst liegt es in der Natur der ländlichen Bevölkerung, am Alten
festzuhalten. Der niedersächsische Bauer, zäh und fest, zeigt diese Neigung
in besonderem Malse, aufserdem ist ihm in manchen, namentlich in der
vom Verkehr abgelegenen Gegenden, die Aufhebung des alten Rechts, noch
kaum zum Bewulstsein gekommen, 2) er hat daher einfach das, was früher
Recht war, gewohnheitsmässig als Sitte festgehalten.
Dies war um so eher möglich, als die Formen der Vererbung sicl
nicht verändert haben, und das geltende Erbrecht, abgesehen von den Be
stimmungen über den Pflichtteil, nur dispositiver Natur ist. Infolgedessen
werden Form und Inhalt des alten Rechts ohne weiteres beibehalten, die
Pflichtteilsbeschränkungen kommen dabei wenig in Betracht.
Es ist ferner zu berücksichtigen, dafs der Zeitraum seit der Aufhebung
des alten Rechts viel zu kurz ist, als dass eine Ausbildung neuer selbständigen
Rechtsgewohnheiten hätte stattfinden können. Denn das Höfegesetz ist erst
am 1. Juli 1875 in Kraft getreten. Aufserdem war das vor dem 1. Juli 1875
bestehende eheliche Güterrecht noch lange nach diesem Termin für die Ver
erbung massgebend. Daher mufste beispielsweise im Bezirk des A.-G. Syke
in welchem über 90% sämtlicher Höfe in die Höferolle eingetragen sind
mehr als die Hälfte der Nachlafsregulierungen, bei welchen das Gericht mit
wirkte, nach dem früheren Rechte erfolgen, erst nach dem Jahre 1885 über
wogen die auf Grund des Höfegesetzes vollzogenen Erbteilungen.
Endlich kommt in Betracht, dass das alte Recht weit besser den
Anschauungen und Bedürfnissen der ländlichen Bevölkerung entsprach als
das moderne.
Das moderne Recht — abgesehen von dem Höferecht3) — vertritt in
erster Linie den Gedanken der Gleichberechtigung aller Kinder an dem
väterlichen Vermögen. Daher wird keiner der Miterben bevorzugt, jeder
erhält den gleichen Anteil auch am Grundbesitz. Ist die Realteilung nicht
angängig, so kann die Civilteilung auf Grund des Verkaufswertes gefordert
werden.
Anderseits sucht das moderne Recht dem Erben, der das Grundstück
übernommen hat, die volle Freiheit des Eigentums zu verschaffen. Jede
Beschränkung der Verfügungsfreiheit unter Lebenden oder von Todes wegen
aufser den Pflichtteilsbeschränkungen ist aufgehoben. Der Eigentümer hat
nur diejenigen Lasten zu tragen, die ihm vertragsmässig auferlegt sind. Hof
*) Vgl. oben § 5 und § 6.
2) Vgl. oben S. 55, 71, 90.
3) Über dessen Bedeutung s. unten § 35 am Schluss.