Wirtschaftliche und soziale Wirkungen der bestehenden Erbgewohnheiten. 155
erlangt hat, viel eher geneigt ist, sofort einen Hausstand zu gründen, als
wenn er zunächst sein Bestreben darauf richten muss, sein Erbteil durch
freie Thätigkeit zu vergrössern!).“ Jene Tendenz wird namentlich dann
zur Geltung kommen, wenn die Auflösung in Zwergwirtschaften zur
Verbreitung hausindustrieller Thätigkeiten geführt hat. Für den Haus
industriellen bedeutet die Gründung einer Familie nur in den ersten
Jahren eine Übernahme gewisser Lasten und Sorgen; sobald die Kinder
aber etwas herangewachsen sind, vermögen sie an der Erwerbsarbeit
thätigen Anteil zu nehmen und tragen damit direkt zur Verbesserung
der materiellen Lage bei. Schon J. WOLF wies vor hundert Jahren in
seiner Politischen Geschichte des Eichsfeldes auf einen derartigen Kausal
zusammenhang hin: „Eben diese Gelegenheit, sich mit Weben und Spinnen
nähren zu können, hat die Ehen, welche vormals auf den Ackerbau und die
nötigsten Handwerke eingeschränkt waren, ungemein erleichtert und das
Land so sehr mit Menschen angefüllt“ 2). Eine treffende Charakterisierung
hat die Erscheinung dann später durch BECK gefunden: „Eine andere
Ursache der Übervölkerung ist der grossen Zersplitterung des Grundbesitzes
beizumessen. Jeder Handwerker, Tagelöhner und Arbeiter konnte sich bis
in neuerer Zeit leicht ein Stückchen Gemüseland erwerben, welches in
Verbindung mit seiner Hände Arbeit ihn und seine Familie ernährte. Dazu
kommt die grosse Fruchtbarkeit der Eichsfelder Bewohner. Je grösser die
Armut ist, desto grösser pflegt ja der Kindersegen zu sein. Familien
mit 10 und mehr lebenden Kindern sind keine Seltenheit“3). Auch in der
frühzeitige Eheschliessung und
Gegenwart sind die beiden Momente
reicher Kindersegen — für die Gegenden der Hausindustrie typisch. Der
Landrat des Kreises Worbis Dr. FRANTZ gab an, im Durchschnitt des
Kreises könne pro Familie die Zahl von 5—6 lebenden Kindern gerechnet
werden. Das sächsische Realteilungsgebiet im ganzen hat nach der neueren
Statistik keine höhere Geburten- und Vermehrungsrate als die benachbarten
Bezirke mit ungeteilter Vererbung des Grundbesitzes*)
Wie für die Kleinbauern und Hausindustriellen eine Vermehrung, so
wird für die grösseren bäuerlichen Besitzer eine Beschränkung der Geburten
Ziffern vielfach als Folge der Teilungssitte angesehen. Das Bewusstsein,
WISSMANN: a. a. O. S. 83.
2) J. WOLF: Polit. Gesch. a. a. O. II. S. 192.
3) BECK: a. a. O. S. 36/38.
*) In den Landgemeinden und Gutsbezirken der sächsischen Regierungsbezirke
entfielen auf je 1000 der mittleren Bevölkerung — 1885 bis 1895 — jährlich:
Zuwachs
Gestorbene
Geborene
13,04
22,7
35,77
Magdeburg
16,96
23,49
40,45
Merseburg
22,73
14,20
36,93
Erfurt
Demnach übertrifft der Reg.-Bez. Erfurt in der Höhe der Geburtenfrequenz und der
natürlichen Vermehrung zwar den Reg.Bez. Magdeburg, steht aber seinerseits erheb
lich hinter dem Reg. Bez. Merseburg zurück, der fast ganz dem Gebiet der ungeteilten
Vererbung angehört.