Langobardische Gerichtsverfassung. Sachsenspiegel.
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grundsätzen. Sie wird dadurch möglich, bezw. notwendig, dals nicht wie
in Frankreich und England neue rechtschaffende Faktoren unter modernen
Gesichtspunkten eingreifen, sondern die deutsche partikuläre Gerichtsübung
sich im wesentlichen selbst überlassen bleibt. So steht vor allem der sich
um das Magdeburger Weichbildrecht gruppierende Quellenkreis des
14. Jahrhunderts auf der Stufe fortschreitender Rechtsbildung, die in dem
stetigen Vordringen des Gezeugenbeweises auf Kosten des Eides des Be
klagten und besonders in der Ausbreitung des Gerichtszeugnisses her
vortritt, das durch Verbriefung die Überleitung zum Urkundenbeweis abgiebt.
Parallel steigert sich im Prozefs die rechtsprechende Thätigkeit der Urteiler,
die successive den Gang des Verfahrens durch eine Kette von Entscheidungen
begleiten. Dieselben erstrecken sich zunächst auf alle prozessualen Vorfragen
(ob Dingzeit sei, ob der Richter das Recht habe dem Beklagten Antwort zu
gebieten, ihn laden zu lassen etc.), — dann aber auch auf einzelne Teile des
Anspruchsstoffs, so dafs allmählich über einzelne Klaggründe, Einreden u. s. w.,
also im gleichen Prozefs mehrfach Recht gefunden wird, — die naturgemälse
Folge davon, dafs der Streitstoff in den modernen Verhältnissen, besonders
der grofsen Handelsstädte, komplizierter wird. So bereitet das Aufkommen
freierer Beweisformen und die-Steigerung der Aufgabe der Schöffen, die im
Magdeburger Recht zu der am meisten vervollkommneten Gestaltung der ger
manischen Prozefsstruktur führt, zugleich die Zersetzung dieser Form vor,
die in der Rezeption des italienischen Rechts definitiv eintritt (vgl. §§ 10—12).
§ 10. Die Fortbildung des germanischen Civilprozesses in Italien.
Ungenügend, aber stoffreich Bethmann-Hollweg, Gesch. 4, 293; 5, 2. Hälfte, 1873. Grund
legend Ficker, Forschungen zur italienischen Reichs- und Rechtsgeschichte 1 (1868), 3 (1870)
und dazu zahlreiche der unten § 11 genannten Monographien.
I. (Gerichtsverfassung.) Weit erheblicher als die Ver
änderungen des germanischen Prozesses nördlich der Alpen sind
die für die Zukunft folgenreichsten Modifikationen, die derselbe im
langobardischen Recht in Italien einführt. Da die Lango
barden erst mit ihrer Einwanderung in Italien (ca. 568) endgiltig
sefshaft werden, gelangen sie erst hier zur Befestigung ihres
Stammesrechts (zunächst im edictus Rotharis ao. 643), auch der
Gerichtsverfassung und des Prozesses, und da ferner in Italien die
Anwendung des römischen Rechts in besonders grossen Gebieten
im Exarchat von Ravenna (der später sog. Romagna) und im Gebiet
(Dukat) von Rom — und in besonders fester Übung fortbesteht,
so werden die sich erst neu bildenden langobardischen Gerichts
einrichtungen besonders stark durch römische Analogieen beein
flufst. Vor allem kommt vermöge des römischen Einflusses von
vornherein die Thätigkeit der germanischen Gerichtsgemeinde nicht
zur Entfaltung; vielmehr entwickelt sich aus dem ungetrennten
Zusammenwirken von Beamten und Versammlung, die bei der
Urteilsfällung der Urzeit den gemeinsamen Ausgangspunkt bildet,
ein ausschliefsliches Richteramt des königlichen Beamten
(ursprünglich des dux, später des Grafen, oder sonstigen königlichen
Lehnsmanns), der somit wie der römische Kaiserrichter alle richter
lichen Funktionen, Prozefsleitung und Zwangsgewalt wie Urteils
fällung, in seiner Person vereinigt und sich hierbei nur durch bera
tende, mehr und mehr rechtsverständige Beisitzer unterstützen lassen,