Full text: Lehrbuch des deutschen Civilprozessrechts ([Hauptbd.])

Rechtspolitische Grundfragen der Civilprozefsgesetzgebung. 
von den verschiedenen Kulturstufen und damit in Verbindung von 
den wechselnden Bedürfnissen eines Volks abhängig, sondern auch 
innerhalb der gleichen Kulturstufe kann die Entwicklung der 
Civilrechtspflege zwei getrennte Grundgestaltungen zum Ziele 
haben, eine Rechtspflege volksmäfsiger Gerichte mit mehr 
oder weniger formfreiem Verfahren, oder eine Rechts 
pflege ständisch abgeschlossener Beamtengerichte mit 
formgebundenem Verfahren. Deshalb läfst sich schlechter 
dings nicht, wie eine verbreitete Meinung annimmt, ein stets und 
überall gleicher Entwicklungsgang, insbesondere eine fortschreitende 
Läuterung formeller Prozefsgebilde zu immer freieren und zwang 
loseren, vermuten. Im Gegenteil ist die Form der Civilrechtspflege 
handlungen durch die Zusammensetzung der Gerichte bedingt, 
und diese wiederum richtet sich nach der wechselnden Lage der 
gesellschaftlichen Gruppierung. Gerade in verwickelten Bildungen 
moderner Verhältnisse kann ganz wohl bei einem Teil der Be 
völkerung der Wunsch nach zwangloser Volksrichterjustiz, bei 
einem andern das Bedürfnis nach geregelter Beamtenjustiz lebendig 
sein, ja es kann sich sogar auch in solchen Verhältnissen der Fort 
schritt im Übergang von einem freieren zu einem mehr gebundnen 
und formellen Verfahren bewegen1. Vor allem ist auch für das 
Prozefsrecht wie für Staatsrecht, Strafrecht, Privatrecht u. s. w. 
das beste nie nach einer allgemein gültigen Schablone, sondern 
nur nach dem speziellen Bedürfnis der einzelnen Nation, nach deren 
Überlieferungen und Gewohnheiten zu bestimmen. 
Die Berücksichtigung dieser Zusammenhänge ist unerlässlich, um eine vor 
urteilsfreie Auffassung von der Aufgabe einer Civilprozefsgesetzgebung und das 
wahre Verständnis für den Wert des jeweils geltenden Civilprozefsrechts zu 
gewinnen. Insbesondere gilt es auch hier, wie für alle Einrichtungen des 
Staatsrechts im weiteren Sinne, zu beherzigen, dafs es für die Güte einer 
Civilrechtspflege nicht nur darauf ankommt, ob ihr Ergebnis objektiv sach 
lich in den meisten Fällen ein gutes ist, sondern auch darauf, ob ihr Er 
gebnis in den Augen des Volks, vom subjektiven Standpunkt der daran 
interessierten, befriedigend ist; — denn ein Staat ist überhaupt nicht existenz 
fähig, bezw. nicht in den ihm gewiesenen Aufgaben leistungsfähig, wenn die 
Bevölkerung oder wichtige Kreise derselben mit vielen oder manchen wesent 
lichen Funktionen des Staats unzufrieden sind. Ein vernünftiger Gesetz 
geber mufs also auch auf dem Gebiet der Civiljustiz ein Prozefsrecht an 
streben, das nicht nur für irgendwelche Bevölkerung guter Wirkungen 
fähig ist, sondern auch unter den gegebenen Verhältnissen thatsächlich gut 
wirkt, mit anderen Worten — insofern in der Popularität ein im Durchschnitt 
ziemlich untrüglicher Mafsstab für die Wirksamkeit liegt — ein populares, 
Vertrauen geniefsendes, bezw. das verhältnismässig populärste. 
Es wird deshalb notwendig, in erster Linie festzustellen, durch welche 
äufseren Veranstaltungen diese Vertrauensbeziehung besonders hergestellt 
werden kann. Gerade in dieser Hinsicht aber ist es die entscheidende und 
für die Beurteilung aller prozefsrechtlichen Fragen grundlegende Thatsache, 
1 S. u. Bestätigung und bez. Nutzanwendungen dieser Grundsätze am altrömischen 
(S. 33), spätrömischen (S. 36), mittelalterlich germanischen (S. 40), gemeindeutschen 
(S. 68) Prozefs; ebenso aber auch auf moderne Rechtsanschauungen, den englischen, den 
französischen Prozefs (§ 13, 15), den deutschen Gewerbegerichtsprozels (§ 42), Amts 
Vgl. Leonhard, Lebensbedingungen der Rechtspflege, 1891. 
gerichtsprozefs (§ 74).
	        
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