Full text: ¬Die Vererbung des ländlichen Grundbesitzes im Königreich Preussen (7)

VII. Schleswig-Holstein. 
fordern. Die diesem Recht vollkommenen entsprechende Vererbungssitte 
wollen wir als „kapitalistisch“ bezeichnen. 
2. Einer der Erben erhält das Gut und hat an die Miterben Abfin 
dungen nach einem Wertanschlage auszuzahlen, welcher feststellt, was das 
Gut an Abfindungen und sonstigen Lasten aufbringen, „tragen“ kann, wenn 
der Übernehmer in der Lage bleiben soll, eine ordentliche Wirtschaft zu 
führen und das Gut seiner Familie zu erhalten. Der Wertanschlag kann mit 
dem Verkaufswert übereinstimmen, wenn dieses Ziel dabei zu erreichen ist, 
sonst bleibt die Bewertung mehr oder weniger weit dahinter zurück. Grund 
sätzlich findet aus Anlaß der Erbteilung keine Versteigerung des Landgutes 
statt; denn das Gut wird in seinen Beziehungen zum Besitzer nicht als Ver 
kehrs- und Handelsobjekt, sondern als zur dauernden Vererbung im Kreise 
der Familie bestimmt, also im übertragenen Sinne als Familiengut angesehen. 
Der Gutsübernehmer kauft das Gut nicht wie ein Fremder, er übernimmt es zu 
einem brüderlichen Anschlag. Wer unter den Erben den nächsten Anspruch 
auf das Gut hat, ist von sekundärer Bedeutung und kann verschieden geregelt 
sein. Der „Anerbe“ bestimmt sich nach dem Willen der Eltern oder dei 
Miterben, mangels solcher Verfügung nach dem Verwandtschaftsgrade, nach 
Alter und Geschlecht, nach dem Lose. 
Das deutsche und skandinavische Anerbensystem unterscheidet sich 
wo das Landgut dem Erblasser eigentümlich gehört — von jeder fidei 
kommißartigen Vererbung des Grundbesitzes oder vom englischen Intestat 
Erbrecht dadurch, daß den Miterben eine Abfindung aus dem hinterlassenen 
Landgute zusteht, nicht aber ein Erbe den ganzen Grundbesitz ohne 
Auslösung erhält und die andern lediglich am Mobiliarvermögen beteiligt 
sind. Auch für das Anerbenrecht trifft also der Ausdruck „Einzelerbfolge 
nicht zu. 
Es sei daran erinnert, daß die gekennzeichnete Vererbungsweise über 
all auf der Geest und im Östen von Schleswig-Holstein für die von alters 
her zu vollem Eigentum besessenen Güter als eine lebendige Sitte und für 
die meisten dieser Distrikte auch als Intestat-Anerbenrecht Anwendung 
findet. Nachdem im vorigen Kapitel die Gründe dargelegt sind, welche die 
dortigen Landgüter zu wirtschaftlichen Einheiten gemacht haben, handelt es 
sich hier vornehmlich darum, die Entstehung der Sitte und Rechtsvorschrift zu 
untersuchen, nach der das ungeteilte Gut einem der Erben zu einem billigen 
Anschläge übertragen wird. 
A. Das Anerbenrecht im Herzogtum Schleswig. 
I. Geschichte der Verordnung vom 18. Juni 1777 „wegen des Näherrechts an die 
Eigentums- oder Bondengüter auf der Geest“ 
Das Anerbenrecht oder, wie es hier genannt wird, das Näherrecht ist 
für das Herzogtum Schleswig erst durch die Verordnung vom 18. Juni 1777 
gesetzlich formuliert worden. Den Anlaß dazu gab der Wunsch des obersten
	        
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