Zur Anwendung der österreichischen Strafproceßordnung von 1873. 859
angesehen werden. Ist er für genügend erachtet worden, so bedeutet
er eben die Anklage, und dem Gesetz, welches bei Beginn der Ver
handlung den „Vortrag der Anklage“ verlangt, aber auch für den
weiteren Verlauf der Hauptverhandlung nur einen mündlichen Schluß
antrag „auf Anwendung des Gesetzes“ begehrt, ist gewiß Genüge ge
schehen, wenn die Anklage, auf Grund deren die Hauptverhandlung
ausgeschrieben ist, bei deren Beginn „vorgetragen" wird. Daß dieser
Vortrag ein mündlicher sein müsse, damit die Anklage gewissermaßen
Leben gewinne, dafür bietet das bestehende Gesetz keinen Anhalspunkt
und wir glauben auch sicher zu sein, daß es in den meisten Fällen
auch bei Anwesenheit des Anklägers nicht so ausgelegt wird. Muß
also die Anklage schon vor Beginn der Hauptverhandlung in einer
Form vorliegen, in welcher sie als eine ausreichende Grundlage der
Verhandlung und Entscheidung betrachtet werden muß, so ist klar,
daß es eines Vortrages, blos um sie zur Existenz zu bringen, nicht
mehr bedarf. Die Vorlesung ist also zu diesem Zwecke gar nicht
nöthig; wäre sie es, so vermöchte man in der That nicht zu sagen,
warum sie gerade in dem formloseren Verfahren vor Bezirksgerichten
als mit dem Princip der Mündlichkeit unvereinbar angesehen werden
soll, während sie im Verfahren vor den höheren Gerichten vorge
schrieben ist.
Aber im bezirksgerichtlichen Verfahren beginnt die Hauptverhandlung
ja erst „mit dem Vortrag der Anklage" und nicht wie bei den Gerichten
höherer Ordnung mit dem Aufruf der Sache! Man muß denen, welche
dieses Argument vorbringen, die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß
sie nicht unterließen, sich die Frage zu stellen, ob ein Grund dafür
aufzufinden sei, daß ein solcher Unterschied vom Gesetze statuirt werde.
Allein der Grund, welcher dafür angegeben wird, beruht auf der eben
erörterten, unseres Erachtens unhaltbaren Annahme, daß im bezirksge
richtlichen Verfahren die Basis der Hauptverhandlung erst in derselben
durch den mündlichen Vortrag des Anklägers geschaffen werden müsse.
Wenn es übrigens wahr wäre, daß die Hauptverhandlung nicht begin
nen kann, weil das, was ihr vorausging, noch nicht die Anklage be
deutet, so könnte sie ja nicht mit, dürfte erst nach dem Vortrage der
Anklage beginnen.
Mag aber auch der Grund nicht erkennbar sein, warum das
Gesetz den Beginn der Hauptverhandlung vor dem Bezirksgerichte in
einen anderen Zeitpunkt verlegte, als in welchem die Hauptverhandlung
vor den anderen Gerichten beginnt, ist dies nicht doch im Gesetze aus
drücklich ausgesprochen? Wir glauben dies entschieden in Abrede stellen
zu dürfen.
Betrachtet man nämlich die fraglichen Gesetzesstellen in ihrem
Zusammenhange, fragt man — und das ist doch die allein ersprießliche
Auslegungsmethode — nicht, welche Deutung die Worte etwa zulassen,
sondern welchem Gedanken sie nach der Absicht des Gesetzes Ausdruck
geben sollten, so zeigt sich wohl sofort deutlich, daß an beiden Stellen
nicht die Frage beantwortet wird, wann, sondern womit die Haupt¬