Full text: Kleine Schriften über Strafrecht und Strafprozeß

814 Zur Entstehung der österreichischen Strafproceßordnung von 1873. 
mal, in allerdings geordneter und gegen Mißbrauch geschützter Weise 
in die Lage kommt, sich auf den Standpunkt Derjenigen zu versetzen, 
die es zu regieren haben, nur in dieser Weise wird es möglich sein, 
in der Bevölkerung das Verständniß für die staatliche Nothwendigkeit, 
das Verständniß für die rechtliche Ordnung zu verbreiten, ohne welches 
Verständniß die Mitwirkung des Volkes bei der Gesetzgebung auf lange 
hinaus eher eine Gefahr als ein Nutzen sein kann. Allein von dieser 
positiven Seite abgesehen, ist es nothwendig, daß man das Geschwornen 
gericht selbst wieder faßt als einen nothwendigen Theil in den Ge 
sammteinrichtungen der Justizgesetzgebung der Gegenwart. 
Ich bin weit entfernt, hier zu sagen, die Jury sei ein unfehl 
bares Institut; sie hat sogar eine schwache Seite, die freilich auch 
wieder ihr Gutes hat. Sie ist nämlich eine Institution, welche dazu 
verurtheilt ist, um mich eines trivialen Ausdruckes zu bedienen, ihre 
schmutzige Wäsche öffentlich zu waschen. Die Fehler, die in Bezug 
auf das Geschwornengericht im einzelnen Falle begangen werden, treten 
sofort an die Oeffentlichkeit hervor und in einem gewissen Sinne ist 
es allerdings für eine richterliche Einrichtung discreditirend, wenn die 
Fehler, die einmal gemacht sind, nicht mit dem Mantel des Amtsge 
heimnisses, nicht mit dem freiwilligen Geheimnisse der Berathungs 
zimmer bedeckt werden können, sondern unwiderstehlich hervortreten 
und die Kritik herausfordern. Ich sage also: Die Jury hat auch ihre 
Bedenken, Nachtheile und Schattenseiten, aber was im modernen 
Staatsleben hätte dergleichen nicht? Wo wären die Gesetzgeber heute 
in der Lage, eine Institution isolirt fassen und sich über sie entscheiden 
zu können, lediglich nach ihrer eigenen Vortrefflichkeit und Unfehlbar 
keit? So ist auch die Juryfrage im heutigen Strafprocesse nicht zu 
fassen. Wer den Entwicklungsgang, den die Reform des Strafver 
fahrens in Europa durchgemacht hat, nur einigermaßen klar überschaut, 
weiß, daß die Frage des Geschwornengerichtes mit unabweisbarer Noth 
wendigkeit in den Vordergrund gestellt ist durch die Gesammtentwick 
lung des Strafprocesses, durch jene Entwicklung, welche die Mündlich 
keit wieder zurückführte, welche zu freier Beweiswürdigung führte und 
uns dann nöthigte, gegen unvermeidliche und unerbittliche Conse 
quenzen dieser Grundsätze nach einer anderen Seite hin Garantien zu 
suchen. So ist die Frage des Geschwornengerichtes in Europa überall 
auf die Tagesordnung gestellt und die Gesammtentwickelung, die statt 
gefunden hat, läßt darüber keinen Zweifel, daß der Strafproceß, wie 
er sich in neuester Zeit entwickelt hat, und wie er in dem Entwurfe 
auch verkörpert erscheint, etwas wie die Jury zum nothwendigen Com 
plemente hat. Ich sage, etwas wie die Jury, weil mir ja wohlbe 
kannt ist, weil ich nicht verschweigen darf, daß in neuester Zeit neben 
die Jury eine zweite Form der Herbeiziehung des Laienelementes zu 
Gerichtsverhandlungen gestellt worden ist. Das ist aber für die Frage, 
die uns heute hier beschäftigt, meines Erachtens vollkommen gleichgiltig, 
denn in dieser Gestalt beweisen die anderwärts vorgeschlagenen Ein 
richtungen eben doch nur, daß der Strafproceß, wie er heutzutage be¬
	        
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