Full text: Kleine Schriften über Strafrecht und Strafprozeß

794 Zur Entstehung der österreichischen Strafproceßordnung von 1873. 
Herr Dr. v. Perger also hält sich an das Berufungssystem 
vom J. 1850; das ist in der Welt bekannter, auch leichter zu beur 
theilen. Das Berufungssystem vom J. 1850 hat aber diesen großen 
Fehler, daß die Anfechtung der Rechtsfrage und die Anfechtung des 
formellen Vorganges blos um der Berufung willen zweimal statt 
finden muß. 
Allerdings kann sie dabei einmal erstickt werden. Denken Sie 
sich nämlich: der Angeklagte hat gegen das Urtheil erster Instanz 
zwar in der Hauptsache einzuwenden, daß er unschuldig sei, allein er 
kann auch sofort einen Nichtigkeitsgrund geltend machen; er sagt: das 
Verfahren ist nichtig, der Zeuge hätte beeidet werden sollen und ist 
nicht beeidigt worden, meinem Antrage anf Vornahme dieser Beweis 
erhebung ist nicht Folge gegeben worden. Was geschieht nun? 
Nach unserem Entwurfe wendet er sich an den Cassationshof, 
findet dort sein Recht und hierauf nochmalige Verhandlung in erster 
Instanz. Ob er Recht hat oder nicht, hat nur der Cassationshof 
entschieden. 
Was geschieht nach dem Systeme vom J. 1850, das  
wie 
mir scheint — der Abgeordnete Dr. v. Perger adoptirt hat? Ich 
möchte gern an den Cassationshof gehen, darf es aber nicht, ich muß 
zuvor an jene Behörde gehen, die man in die Nähe des Gerichtes 
erster Instanz gesetzt hat, weil sie auch die Thatfrage auf Verlangen 
zum zweiten Male zu prüfen hat. Ich habe zwar vor ihr nichts 
anderes zu discutiren als die Rechts= und die Formfrage, die besser 
sogleich an den Cassationshof zu bringen wäre. Das nützt mir aber 
nichts, ich muß sie zuerst vor ihr discutiren. Diese zweite Instanz kann 
die Nichtigkeitsgründe für vorhanden ansehen oder nicht. Sieht sie solche 
als vorhanden an, so wird sie — meinen Sie — 
sagen: sie cassire 
das Verfahren der ersten Instanz. Ich antworte: wenn sie will; 
wenn sie nicht will, so begnügt sie sich, diese Nichtigkeit zu constatiren, 
kann aber auf Grund desselben Verfahrens, ohne den Angeklagten ge 
hört zu haben, ohne Zeugen vernommen zu haben, das Urtheil des 
ersten Richters bestätigen. Wenn dies auffallend gefunden wird, sind 
Herren genug hier, welche die Strafproceßordnung vom J. 1850 
kennen, die in der Lage sind, mich zu controliren. 
Nehmen wir den umgekehrten Fall: Sie hat vorhandene Nichtig 
keitsgründe nicht constatirt, hat mit flagranter Verletzung des klaren 
Gesetzes einen Nichtigkeitsgrund, den das Gesetz ausdrücklich vor 
zeichnet, als nicht vorhanden erklärt. Was thut das gepriesene Be 
rufungssystem? 
Abgeschnitten ist jeder weitere Rechtszug, wenn nicht die Berufungs 
behörde selbst, wobei sie sehr ungeschickt sein müßte, im eigenen Ver 
fahren einen Nichtigkeitsgrund begangen hat. Mit der Nichtigkeits 
beschwerde wegen Verletzung der Form in erster Instanz komme ich 
also nicht an den Cassationshof, mit der Frage des materiellen Rechtes 
nur auf einen Umweg. Die Folge ist: 
Die Wucht, mit welcher die 
Strafproceßordnung, wie der Ausschuß 
sie Ihnen vorlegt, auf den
	        
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