Full text: Kleine Schriften über Strafrecht und Strafprozeß

Zur Entstehung der österreichischen Strafproceßordnung von 1873. 787 
Barbar genug, zumal da, wo es sich um das Interesse des Angeklagten 
handelt, diesen Einrichtungen die Thür zu verschließen. So steht es 
aber nicht, sondern die gesammten Einrichtungen des Processes können 
keinen anderen Zweck haben, als darauf gerichtet zu sein, der Wahr 
heit und dem Rechte möglichst rasch zum Siege zu verhelfen. Sie 
haben also eben zu wählen zwischen einer Gesammtheit von Einrich 
tungen, die ineinandergreifen, und einer anderen. Nun gibt es Proceß 
formen, mit denen die Berufung vortrefflich vereinbar ist. Es ist das 
die Form des schriftlichen inquisitorischen Processes, geziert mit jener 
weiteren Vortrefflichkeit, welche der Herr Abgeordnete v. Perger als 
ein gehörig geregeltes Beweisrecht bezeichnete, das heißt mit der 
gesetzlichen Beweistheorie. Diese letztere will ich vorderhand bei 
Seite lassen. 
Die Schriftlichkeit, meine Herren, über die wir heute klagen und 
unter deren Last wir seufzen, war einst ein Fortschritt; denn die 
Schriftlichkeit wurde eingeführt, damit man eben beim Mangel von 
rechtskundigen Richtern in einzelnen Lokalitäten, bei der geringen Zahl 
von Rechtskundigen überhaupt, die Möglichkeit habe, Proceßsachen 
wenigstens in zweiter Instanz oder auch auf dem Wege der Actenver 
sendung zur Abgabe von Gutachten, Rechtsgelehrten vorlegen zu können. 
So, meine Herren, kam um der Berufung willen die Schriftlichkeit 
in den Proceß, so kam sie auch in den Strafproceß. 
So lange der Proceß ein schriftlicher war, war es vollkommen 
möglich, einem zweiten, einem dritten Richter und — es kam auch 
wirklich in Deutschland vor — unter Umständen einen vierten Rich 
ter u. s. w. cum gratia in infinitum dieselben Acten vorzulegen. 
Die Uebelstände, die unmittelbar aus diesem Verfahren hervorgingen, 
waren wohl geringfügiger Natur: einige Kosten, einige Verschleppung 
der Sache; allerdings aber kam auch hinzu — gestatten Sie mir dies 
beizufügen — gänzliche Verwirrung des Rechtssinnes der Bevölkerung, 
wenn die Urtheile gezählt werden mußten. Wie in einem einzelnen 
Collegium die Stimmen der einzelnen Richter gezählt werden und, 
wenn keine Einstimmigkeit erzielt wurde, doch die Möglichkeit zugegeben 
werden muß, daß der, welcher in der Minorität geblieben, Recht hatte, 
so zählte man jetzt die Zahl der Gerichte, der Facultäten und Richter 
collegien, und waren von dreien zwei für, eine gegen einen Ausspruch, 
so war derselbe durchgedrungen. Hier war also wieder das allmäch 
tige Gesetz der Zahl und das unauslöschliche Bedürfniß der mensch 
lichen Natur, eine Sache zum Ende zu führen, maßgebend dafür, daß 
ein Abschluß angenommen wurde; aber die Möglichkeit des Irrthumes 
war nicht viel weiter hinausgerückt wie bei der ersten Instanz, voraus 
gesetzt, daß die erste Instanz auf Grund eines ordentlichen Verfahrens 
entscheidet und verläßlich gebildet ist. 
Immerhin aber, im schriftlichen Processe kann man diese Berufung 
sowohl dem Angeklagten, als dem Staatsanwalte gewähren, man kann 
das noch leichter thun, wenn jene „geregelte Beweisführung" hinzukommt, 
die ebenfalls eingeführt worden ist, ich möchte sagen, im Interesse des
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.

powered by Goobi viewer