Full text: Kleine Schriften über Strafrecht und Strafprozeß

776 Zur Entstehung der österreichischen Strafproceßordnung von 1873. 
I. Derselbe ist aus Gründen der Gerichtsorganisation 
unausführbar. Es ist nämlich einleuchtend, daß die Zahl der von 
der Staatsanwaltschaft gegen den Ausspruch über die Thatsachen zum 
Nachtheil des Angeklagten ergriffenen Berufungen niemals beträchtlich 
ins Gewicht fallen kann. Die mit der Berufung verbundene Geschäfts 
last müßte also nothwendig dieselbe bleiben, wie nach der Organisation 
vom J. 1850. Nach dieser bestanden jedoch z. B. im Sprengel des 
jetzigen österreichischen Oberlandesgerichtes nicht weniger als sieben Appell 
behörden in Bezug auf Urtheile wegen Verbrechen und Vergehen. 
Kann man hoffen, daß ein Oberlandesgericht zur Bewältigung dieser 
Geschäftslast ausreichen würde? Könnte man dies auch selbst nach der 
Wiederherstellung des Oberlandesgerichtes in Linz? Könnte man es in 
Böhmen, wo in den achtzehn Monaten bis Ende 1851 nicht weniger 
als 447 Berufungsverhandlungen, wegen Verbrechen oder Vergehen 
vorkamen? Es ist also klar, daß das bedauerliche Auskunftsmittel der 
Aufstellung einzelner Landesgerichte als Appellgerichte keineswegs auf diese 
oder jene Provinz beschränkt werden könnte, sondern, daß man genöthigt 
würde, bei jedem Landesgerichte einen Appellsenat aufzustellen und dann 
entweder die Bezirks=Collegialgerichte wieder einzuführen oder die bedauer 
liche Einrichtung der Berufung von einer Abtheilung desselben Gerichtes 
an die andere, eine Einrichtung, welche schon als Ausnahme in den I. 
— geradezu zur Regel zu machen. 
1850 u. ff. kaum ertragen wurde, 
Aber auch damit wäre nur für die Mittelclasse der strafbaren 
Handlungen gesorgt, nicht aber für die schweren Verbrechen, wo über 
In den Ländern, wo dies 
dieselben nicht Geschwornengerichte urtheilen. 
der Fall ist, müßte man allexdings eigene Criminalobergerichte mit 
einem sehr beschränkten Sprengel einsetzen. Es ist aber bekannt genug, 
wie gering das Vertrauen des Publikums zu solchen einseitigen Straf 
gerichten ist, und wie wenig tüchtige Richter geneigt sind, sich bei den 
selben verwenden zu lassen. 
II. Das durch den Vorschlag bezweckte Verfahren würde ein über 
alle Vorstellung complicirtes werden müssen 
Es ist als eine der empfindlichsten Schattenseiten des im J. 1850 
angenommenen französischen Berufungssystems erkannt worden, daß das 
selbe das Nullitätssystem, den Hauptpfeiler des Verfahrens, in der wider 
sinnigsten oder unehrlichsten Weise untergräbt. Glücklicherweise darf an 
genommen werden, daß der in Rede stehende Vorschlag hierauf nicht zurück 
kommen wolle; ja es muß dies angenommen werden, weil sonst die Staats 
anwaltschaft in demselben Augenblick, wo ihr die Berufung gegen den 
Ausspruch über die Thatsachen entzogen wird, auch der Möglichkeit 
beraubt würde, wesentliche Mängel des Verfahrens mit durchgreifendem 
Erfolge geltend zu machen, was gewiß nicht beabsichtigt sein kann. Noch 
weniger kann beabsichtigt sein, die Geltendmachung von Nichtigkeits 
gründen auf zwei verschiedene Arten zu regeln, je nachdem sie von der 
Staatsanwaltschaft oder vom Angeklagten unternommen wird. 
Es darf also als feststehend angenommen werden, daß die Geltend 
machung von im ersten Verfahren unterlaufenen Nichtigkeiten zunächst
	        
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