Full text: Kleine Schriften über Strafrecht und Strafprozeß

754 Zur Entstehung der österreichischen Strafproceßordnung von 1853. 
II. Ist es möglich, durch Modification des Berufungssystems 
die Hindernisse zu beseitigen, welche sich seiner Wiedereinfüh 
rung und namentlich seiner Ausdehnung auf die schwereren 
Criminalfälle entgegenstellen? 
Es läßt sich nicht verkennen, daß die Bedenken, welche das Be 
rufungssystem der Strafproceßordnung vom J. 1850 erregt, keines 
wegs alle von gleicher Bedeutung seien. Viele der oben dargestellten 
Uebelstände, manche andere, die nicht angeführt wurden, weil sie unter 
geordneter Natur sind, lassen sich durch wenig eingreifende Bestim 
mungen beseitigen; und in der That ist hiefür in dem im J. 1851 
zu Stande gekommenen Entwurf einer Strafproceßordnung vielfach 
gesorgt worden. Diese partiellen Reformen sind bereits in dem nun 
mehr vorliegenden Entwurfe berücksichtigt worden. 
Als unbedingt geboten, aber auch mit dem Wesen der Berufung 
durchaus vereinbar zeigt sich ferner die Beseitigung der falschen Stel 
lung, welche der Berufungsbehörde in Bezug auf die von ihr con 
statirte Verletzung wesentlicher Förmlichkeiten im Verfahren erster 
Instanz angewiesen ist. 
Es ist bereits früher auf die Bestimmung des §. 384 der Straf 
proceßordnung vom J. 1850 aufmerksam gemacht worden, nach welcher 
das Landesgericht, wenn es das Erkenntniß des Bezirks-Collegial 
gerichtes wegen Verletzung wesentlicher Förmlichkeiten des Verfahrens 
aufhebt, zugleich unter Nachholung oder Verbesserung der mangelhaft 
befundenen Proceßhandlung in der Sache selbst das Endurtheil zu 
fällen hat. Mit dieser Bestimmung, vermöge welcher sich der höhere 
Richter dem ersten Urtheil gegenüber nach dessen Vernichtung ganz in 
derselben Lage befindet, in welcher er sich auch vor dem formell un 
anfechtbaren Urtheil befunden hätte, wird einer der Grundpfeiler der 
Strafproceßordnung vom J. 1850 — das Nullitätssystem — gerade 
für die praktisch am schwersten ins Gewicht fallende Classe strafbarer 
Handlungen untergraben. 
Indem nämlich der Gesetzgeber für den entscheidendsten Act des 
Processes, für die Hauptverhandlung, die Schriftlichkeit aufgibt, womit 
von selbst die Möglichkeit entfällt, den inneren Werth des Actes 
später noch verläßlich zu prüfen, empfand er das Bedürfniß, denselben 
mit schützenden Formen zu umgeben, deren Beobachtung eine Garantie 
jenes inneren Werthes sein sollte, und deren Nichtbeobachtung das 
Vertrauen in den Werth des processualischen Vorgangs ausschließen 
muß. Indem er dem Richter gestattete, sein Urtheil auf eine Grund 
lage zu stellen, welche später nicht reproducirt werden kann, indem er 
ihn dabei von jeder Beweisregel entband, konnte er sich die Noth 
wendigkeit nicht verhehlen, wenigstens dafür Sorge zu tragen, daß 
das Beweisverfahren ein regelmäßiges und geordnetes und der Richter 
wenigstens der Einwirkung durchaus unverläßlicher Beweismittel ent 
zogen sei.
	        
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