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Versetzung in Anklagestand.
auch flüchtigen Blick auf die Geschichte der Gliederung des Straf
processes auf dem europäischen Continent und namentlich in Frank
reich zu werfen.
§. 5.
Drei Hauptformen des Strafverfahrens sind es bekanntlich, aus
deren Zusammenwirken in den von germanischen Völkern gegründeten
Continentalstaaten der Strafproceß zu seiner heutigen Gestalt sich ent
wickelte, der römische, der germanische und canonische Criminal
proceß. Der römische Proceß, obgleich in Einzelheiten mannigfaltig
unter den Kaisern umgestaltet, hatte doch im Wesentlichen die alte,
früher als die Grundform des Anklageprocesses dargestellte Gestaltung
bewahrt. Wir brauchen daher nur einige Bemerkungen über die beiden
andern nachzutragen.
Auch das germanische Strafverfahren war, wie dies ja immer bei
jugendlichen Völkern der Fall ist, rein accusatorisch; aber begreiflicher
weise mußte es nichts destoweniger bei den einfachen Verhältnissen der
Germanen sich ganz anders entwickeln, als bei den auf der Höhe der
Cultur stehenden Römern. Es scheint, daß nur die Entscheidung der
jeweilig aufgeworfenen Rechtsfrage Schwierigkeiten hatte; die Nach
weisung des Factischen, das Beweisverfahren, machte sich bei der Ein
fachheit der Verhältnisse, so zu sagen von selbst. Die Verbrechen, die
begangen werden konnten, waren einfach, sie waren meist Thaten der
Gewalt, von Uebermächtigen vor den Augen Aller begangen, die zusehen
mochten. Die Wahrhaftigkeit war ein so tief wurzelndes Element des
Volkscharakters, daß sie viel später als irgend eine andere gute Eigen
schaft selbst die verderbteren Individuen verließ. Man glaubte eher an
die Möglichkeit eines Verbrechens, als an die einer falschen Anklage,
so wie sich selbst bei Personen, die eines Verbrechens fähig waren,
nicht unbedingt voraussetzen ließ, daß sie an den Grundsatz aller mo
dernen Verbrecher: „Si fecisti, nega“ sich halten würden. Wenn aber
doch der Angeklagte Widerspruch gegen die Anklage erhebt, so ergibt
sich dem einfachen Sinne eines unbedingt gläubigen Volkes ein ein
faches Auskunfsmittel: die Parteien müssen Gott zum Richter oder
vielmehr zum Zeugen anrufen, und Gottes Ausspruch ist es, auf den
der irdische Richter sein Urtheil stützt. Es läßt sich also recht wohl
begreifen, wie der Zeugenbeweis nur auf Umwegen in das germanische
Strafverfahren gelangen konnte, und wie man darauf kam (auch in
Civilprocessen) die Feststellung der Thatsachen, als ein ganz außer dem
Bereich richterlicher Entscheidung liegendes Moment, erwählten Zeugen
anheim zu stellen. Die Pflicht dieser Zeugen war: veritatem dicere. *5)
Wie sie jedoch die Kenntniß dieser Wahrheit sich verschaffen wollten,
das scheint gänzlich ihrem Ermessen überlassen gewesen zu sein, so daß
*) Cap. II. 808. n. 3.; Cap. II. 819. n. 1. S. Biener, Beiträge zur
Geschichte des Inquisitionsprocesses und der Geschwornengerichte (Leipzig 1827)
S. 123, Wigand, das Femgericht Westphalens (Hamm 1825).