432
Vernehmung des Angeklagten und der Zeugen.
sames Verhalten und lückenhafte Erklärungen die Details der Anklage
unbeantwortet lassen — in beiden Fällen muß es zu einem Streit
zwischen dem Richter und dem Angeklagten kommen, welcher die Un
befangenheit des ersteren, das Vertrauen des letzteren erschüttern kann,
jedenfalls aber diesem und den Zuhörern den Eindruck zurücklassen muß,
daß die Sache schon vor dem Beweisverfahren entschieden sei. — Fordert
das neue Verfahren wirkliche Richter, so verlangt es auch, daß vor
denselben zwei Parteien erscheinen. Läßt sich nun auch unmöglich die
naturgemäße Ungleichheit zwischen Ankläger und Angeklagten ganz besei
tigen, so verstößt es doch jedenfalls gegen den unserer Hauptverhandlung
zu Grunde liegenden Gedanken, daß eine der beiden Parteien zugleich
als Object und als Subject des Processes behandelt, ja wohl gar einem
Verhör von Seiten des Anklägers selbst unterworfen wird. Allerdings
liegt es in der Natur der Sache, daß der Ankläger, der für seine Person
an den Vorfällen, welche den Gegenstand des Processes bilden, keinen
Antheil hat, einem Verhör über dieselben nicht unterworfen werden
könne. Daraus folgt aber nicht, daß die im Verhör liegende Benach
theiligung des Angeklagten zu den unvermeidlichen Consequenzen der
sachlichen Ungleichheit, die zwischen Ankläger und Angeklagtem obwaltet,
gehöre. Denn sie ist eben durch die Beseitigung des Verhöres zu be
heben; und schon darum sollte dasselbe entfallen, sofern sich nicht nach
weisen läßt, daß es für die gedeihliche Lösung der Aufgaben des Pro
cesses unentbehrlich sei.
2. Das Verhör des läugnenden und (wie wir hinzufügen müssen)
nähere Angaben verweigernden Angeklagten ist geeignet, auf den Gang
des ganzen Verfahrens einen wesentlichen Einfluß zu üben. Dennoch
entzieht es sich jeder gesetzlichen Regelung. Von der Person und
Gesinnung des Präsidenten hängt es ab, ob dieses Verhör zur bloßen
Form herabsinken, oder ob es, den ganzen übrigen Inhalt der Haupt
verhandlung verdrängend, der Mittelpunkt des Verfahrens, die Repro
duction aller noch so bedenklichen Inquirentenkünste in öffentlicher
Sitzung werden soll. Nur die Person des Angeklagten setzt hier eine
Schranke. Der Schüchterne und Unbeholfene erliegt gar bald der
geistigen Uebermacht, welche Stellung, sorgsame Vorbereitung, ruhige
Sicherheit, langjährige Uebung dem verhörenden Richter verschaffen.
Der geübte Stammgast der Strafjustiz, der kaltblütig berechnende
Angeklagte weiß dagegen sehr wohl, daß die Forderung, die an ihn
gestellt wird, im Grunde eine unerzwingbare sei. Er kann die Gelegen
heit benutzen, um aufregende Scenen herbeizuführen und Verwirrung
in die Verhandlung zu bringen; er kann ein schlau ersonnenes Ver
theidigungssystem befolgen und sich, wenn er gedrängt wird, hinter
Schanzen flüchten, die keine richterliche Gewalt zu übersteigen vermag.
3. Das Verhör des Angeklagten, wie wir es hier vor Augen
haben, verletzt das Princip der Mündlichkeit. Es kann mit Erfolg
nur geführt werden, wenn der Vorsitzende in der Lage ist, eine Reihe
von Vorhalten zu machen, welche zusammengenommen den wesentlichen
Inhalt der Untersuchungsacten reproduciren. Auf diese Weise formulirt